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Happy Birthday, Grenzenlos Kultur! Anlässlich der 25. Festivalausgabe stöbert die diesjährige Blog-Redaktion in den Archiven und hebt besondere Fundstücke noch einmal ins Rampenlicht. Heute: Die Kritik eines Doppelabends des renommierten Choreograf Panaibra Gabriel Canda von 2018. 

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Wer ist ich? José Domingo und Panaibra Canda in den “Marrabenta Solos”, Foto: Holger Rudolph

Mit “Metamorphoses”  und “Time and Spaces – The Marrabenta Solos” beschließt der mosambikanische Choreograf Panaibra Gabriel Canda den Tanzschwerpunkt bei Grenzenlos Kultur vol. 18

Wie hinskizziert wirken die Quallen, die auf der Rückwand der ansonsten leeren schwarzen Bühne erstarrt sind. Davor lagern ein Gebilde aus grünen aufgeblasenen Mülltüten, das an einen stachellosen futuristischen Kaktus erinnert sowie eine dicke Stoffschlange. Es ist dunkel; nur ein Muster aus Licht erhellt den Boden.

Ein Doppelabend von Choreograf Panaibra Gabriel Canda beschließt den Tanzschwerpunkt (nach Michael Turinsky, Jeremy Wade und Danza Mobile) beim diesjährigen Grenzenlos Kultur: Im ersten Teil bringen drei Tänzer (José Jalane, Lela Alberto Mabasso und Maria Domingos Tembe) “Metamorphoses” auf die Bühne, im zweiten Teil tanzt Canda selbst “Time and Spaces – The Marrabenta Solos”. Der aus Mosambik stammende Choreograf gehört zu den bedeutendsten vom afrikanischen Kontinent.

“Metamorphoses” setzt sich mit globalen Problemen auseinander: Klimawandel, Umweltverschmutzung und das Verwischen der Grenzen zwischen organischer und anorganischer Materie. Die Choreografie beginnt mit einem Soundteppich unterschiedlichster Geräusche: Es röchelt, piept, rauscht, eine Sirene heult. Die Schlange auf der Bühne beginnt sich zu bewegen. In ihr stecken die drei Tänzer*innen und erwecken sie mit fließenden Bewegungen zum Leben, bis sie sich allmählich aus ihr herausschälen.

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Da ist die Schlange schon geteilt: José Jalane, Maria Domingos Tembe und Lela Alberto Mabasso, Foto: Holger Rudolph

Jetzt erst fällt auf, dass Maria Tembe keine Beine hat. Daraus baut Canda erstaunliche Bilder: Gemeinsam mit José Jalane bildet sie ein neues, zweiköpfiges Wesen. Canda spielt mit der Illusion, dass Jalanes Beine zu Tembe gehören. Währenddessen betritt Lela Alberto Mabasso mit leuchtenden Krücken die Bühne und vollführt eine fesselnde Choreografie aus fließenden und dynamischen Bewegungen.

Der Titel ist bezeichnend für die erzählte Geschichte: Die Tänzer*innen erleben in ihren Rollen eine Metamorphose. Von der raupenähnlichen Kreatur entwickeln sie sich zu eigenständig tanzenden Wesen, die irgendwann mit den Mülltüten auf der Bühne zu Bewegungsskulpturen verschmelzen. Während Tembe und Jalane Rücken an Rücken zu einem Wesen verschmelzen, schnallen sie sich die Tütenkonstruktion wie einen Rock um, wirken auch dank ihrer Armbewegungen wie Adelsdamen. Sie tanzen gemeinsam, immer wilder und dynamischer auf ungewohnte rhythmische Xylophon-Klänge, bis sie wieder unter ihren Hauben verschwinden.

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Damen mit Mülltüten-Reifröcken vor Quallenlandschaft, Foto: Holger Rudolph

Jetzt erst beginnen sich die Quallen im Hintergrund zu bewegen. Sie schwimmen mit unzähligen Plastikpartikeln im Meer. So schließt sich der inhaltliche Kreis des ersten Teils: Lebewesen entwickeln sich ständig weiter, doch durch uns ist die Erde mit hochgradiger Umweltverschmutzung und dem Klimawandel konfrontiert. Zwangsläufig muss sich das Leben auf der Erde anpassen. Organisches Material verschmilzt mit anorganischem, die Qualle wird zu Plastik, das Lebende bändelt mit dem Toten an.

Der zweite Teil scheint zunächst nichts mit dem ersten gemein zu haben. Mosambik ist im letzten Jahrhundert mit zahlreichen politischen Wandeln konfrontiert worden. In dieser Choreografie setzt sich Canda mit Identitäten und dem Körper auseinander. Eindrucksvoll und energiegeladen tanzt er die Gesten seiner Identitäten und ruft dabei “Kommunist”, “Sozialist”, “Demokrat”, “Portugiese”, “Afrikaner”. Seine Verzweiflung darüber, sich nicht eindeutig zu einer Gruppe zuordnen zu können, ist im Raum zu spüren. Begleitet wird Canda vom Marrabenta-Gitarristen José Domingo. Der schlaksige ältere Mann steht mit lässig-weit-sitzender Hose und Tunika, Strohhut und Sonnenbrille unauffällig und doch präsent auf der Bühne. Er scheint eins zu sein mit seiner Musik.

Canda durchlebt die Entwicklung seines Landes am eigenen Körper. Zuerst versucht er, sich das jeweils gängige System anzueignen. Als das nicht klappt, lehnt er sich gegen das System und die Vereinheitlichung auf und führt einen Boxkampf mit dem imaginären Gegner Regierung. Ruhige und hektisch-dynamische Momente wechseln sich ab, begleitet von der rhythmischen Marrabenta-Musik und den Klängen, die Canda selbst durch Stampfen, Schleifen oder die an seinen Schienbeinen befestigten Rasseln herstellt. Seine Bewegungen sind abgehackt und gleichzeitig fließend, wie unter Strom, ausdrucksstark.

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So sieht also ein kommunistischer Körper aus: José Domingo und Panaibra Canda, Foto: Holger Rudolph

Sein Identitätskampf erreicht den Höhepunkt, als er “Man muss den afrikanischen Körper auslöschen” und “Man muss einen assimilierten Körper schaffen” ruft. Doch auch der assimilierte Körper führt nicht zum Ziel, sondern zur Spaltung: “ich bin : bin ich” steht da in der Übertitelung des portugiesischen Textes. Schließlich gibt Canda auf nach einer vorgegebenen Identität zu streben, legt sich erschöpft und verschwitzt auf die Bühne und resümiert, dass wir doch letztendlich alle nur Menschen aus Knochen, Muskeln und Haut sind.

Der inhaltliche Zusammenhang beider Teile lässt sich mit dem Begriff der Metamorphose finden: die des Körpers sowie die des sozialen Systems. Das Menschliche passt sich an das Nicht-Menschliche an, so wie Menschen versuchen, sich an das soziale System anzupassen. Canda wirbt für die Bewusstmachung der aktuellen und akuten Probleme unserer Erde und stellt uns Menschen dabei alle auf dieselbe Stufe. Dafür findet er am Ende seines Solos ein treffendendes Bild. Letzlich sind wir alle gleich und alle eins: Atem.