Um stille Feuer liegen

Dunkelheit.

Stimmengewirr um mich herum.

Nackte Füße rennen in den Raum.

Meine Augen gewöhnen sich langsam an die Abwesenheit des Lichts.

Sieben schemenhafte Körper erscheinen auf der Bühne.

Das Stimmengewirr verstummt.

 

Licht.

 

Sieben Menschen auf der schwarzen Bühne, aufgereiht.

Sieben Paar nackte Füße.

Sieben Kleider mit bunten Farbklecksen in Plissee-Optik, die an Pina Bauschs Palermo Palermo erinnern.

Ein rotes Kleid in der Mitte.

Links nesteln Finger an einem Rock.

Nervosität geht durch die Reihe: Den Stoff nicht in Ruhe lassen können, die Haare richten, den Rock lupfen und wieder fallen lassen.

 

Eine Person im Publikum zählt laut die Anwesenden auf der Bühne.

Eins, zwei! Drei, vier, fünf, sechs, sieben!

Amüsiertes Lachen aus den Zuschauerreihen.

Warum eigentlich? Ich wette viele haben gezählt. Nur eben leise.

 

Stille im Raum.

Ruhe.

Betrachtung.

 

Montag, 16. Oktober. Ich befinde mich 17 Meter unter dem Großen Haus des Staatstheaters Mainz in der U17-Bühne, inmitten der Aufführung „Undressed“ mit Tänzer*innen von tanzbar_bremen. Der Verein tanzbar_bremen will möglichst vielen Menschen Kunst und Kultur zugänglich machen und bringt dafür die unterschiedlichsten Menschen für gemeinsame Projekte in professioneller und auf Augenhöhe ausgerichteter Arbeit zusammen. Der Verein ist der erste, der in seinem Tanzensemble seit 2015 drei feste Arbeitsplätze für Tänzer*innen mit Downsyndrom geschaffen hat. Bundesweiter Standard ist das noch nicht.

Kommunizieren über Tanz und Bewegung

Es gibt kein Bühnenbild, nur bunte Kostüme. Am rechten Blickfeldrand stehen ein Keyboard und ein Schlagzeug, dahinter eine hohe schwarze Wand für Abgänge. Tänzer Adrian Wenzel sitzt am Keyboard, drückt Knöpfe, bis eine eingespeicherte Beispielmusik ertönt und er erfindet dazu passende Akkorde am Keyboard. Eine Discokugel wirft ihr gespiegeltes Licht in den Raum. Als dann noch Adriana Sinram buchstäblich aus der aufgestellten Reihe tanzt und sich in zuckenden Rhythmen zu bewegen beginnt, ist das Bild perfekt. In stakkatohaft-abrupten Bewegungen fliegen ihre Arme und Beine durch die Luft, landen dazwischen wieder in Ausgangposition, ehe sie erneut vom Körper geschleudert werden. Eine Marionette, die bewegt wird und keine Kontrolle über sich selbst zu haben scheint.

Jenny Eck in lila-schwarzem Kleid mit Plissee-Optik, wirft ihren Kopf und Arme nach hinten, verbiegt sich wie ein C; hinter ihr im Halbdunkel drei weitere Tänzer*innen
Jenny Ecke in „Undressed“, Foto: Holger Rudolph

Tomas Bünger, Choreograf von „Undressed“, arbeitet in diesem Projekt gemeinsam mit sieben Tänzer*innen, die zum einen Festangestellte und zum anderen Gäste von tanzbar_bremen sind. Zu den Proben für „Undressed“ hat er Fragen mitgebracht, die etwas auslösen sollen und deren Antworten er zusammen mit den Tänzer*innen in der Bewegung finden will. Jede*r bringt sich ein und so entsteht nach und nach die Choreografie zu „Undressed.“ Frei nach Pina Bauschs choreografischer Arbeitsphilosophie: „Mich interessiert nicht, wie sich Menschen bewegen, sondern was sie bewegt“.

Bewegte Stille

Die sechzigminütige Choreografie besteht aus einem steten Zusammenfinden, Neuordnen, Loslösen. Fein darunter gewebt sind die individuellen Empfindungen der Tänzer*innen, wie das Genießen von Bewegungen, das Auskosten der eigenen Bewegungsfreiheit in Solo-Momenten, aber auch im Zusammenspiel von Körpern in Simultanität, Duetten und Gruppenstandbildern.

Auffällig ist die gut gesetzte Musik, welche die Bewegungen nie überschattet, sondern die Gesamtdynamik des Abends im Gleichklang mitgestaltet. Beispielsweise ist an einer Stelle DDR-Liedermacherin Bettina Wegner mit ihrem Lied „In einem kühlen Grunde zu hören, dessen Originaltext von Joseph von Eichendorff sie in den kriegsverherrlichenden Strophen umgedichtet hat (siehe Anmerkung am Textende). Die Tänzer*innen übersetzen während des Liedes den Text in individuelle Gesten und Bewegungen ganz für sich und doch dem Publikum zugewandt, und erschaffen so eine weitere, eigene Interpretation des Eichendorff-Gedichts.

Neben der tänzerischen und musikalischen Sprache, wird noch einem dritten Element Raum gegeben: der Stille. Wobei mir „Stille“ zu schreiben nicht ausreichend erscheint. Es sind die leisen Töne in der Stille: die spürbare Anwesenheit der Köper der Tänzer*innen, auch die meiner Sitznachbar*innen; es ist die Bewegtheit des Tanzes, die in mir nachhallt. In der Stille kann ich als Zuschauerin dem Geschehen folgen, es einsinken lassen, es mit eigenen Gedanken verweben.

Adrian Wenzel (li), Tim Gerhards (mi), Corinna Mindt (re) miteinander, hintereinander, sanft in Bewegung, Foto: Holger Rudolph

Es gibt Momente, in denen ich in Adriana Sinrams Bewegungen das Fremde zu spüren glaube und die Unsicherheit in der Begegnung mit anderen. Ich meine Tim Gerhards Genuss an der eigenen Beweglichkeit und seine Tanzfreude zu erkennen, wenn er nackt über die Bühne zu Tschaikowskys „Tanz der Rohrflöten“ tanzt. Auch empfinde ich die Notwendigkeit des sinnlichen Austauschs als Mensch mit anderen Menschen nach, während den drehenden Bewegungen Corinna Mindts und Adrian Wenzels in einem Strudel sanfter Zu- und abrupter Abwendungen zu Òlafur Arnalds „So far + so close“. Und ich fühle mit Jenny Ecke, die sehnsuchtsvoll den Kontakt zu uns sucht, aber unverstanden bleibt, obwohl ihre tänzerische Sprache und leuchtenden Augen kraftvoll erzählen.

Es ist ein Abend über das Menschsein in einem puren, unverstellten Blick, der durch Tanz, Körper, Bewegung, Atmung, Musik, Stille erzählt und ganz ohne gesprochene Sprache auskommt.

 

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Für Interessierte:

In einem kühlen Grunde

Strophe 4 + 5, Original Eichendorff (1813)

Ich möcht’ als Reiter fliegen

Wohl in die blut’ge Schlacht,

Um stille Feuer liegen

Im Feld bei dunkler Nacht.

 

Hör’ ich das Mühlrad gehen:

Ich weiß nicht, was ich will —

Ich möcht’ am liebsten sterben,

Da wär’s auf einmal still!

 

 

Strophe 4 + 5, Fassung von Bettina Wegner

Ich möcht’ als Reiter fliegen

Wohl durch die dunkle Nacht,

Um stille Feuer liegen

Im Gras das neigt sich sacht.

 

Wenn sich die Blätter färben,

So wie der Herbst es will —

Möcht’ ich am liebsten sterben,

Dann wär’s auf einmal still!