In der Lachpyramide

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Jeder sieht jeden, auch sich selbst © Holger Rudolph

Geburt einer rücksichtsvollen Community: “Together Forever” von Jeremy Wade gibt eine künstlerische Antwort auf die Symposiumsfrage “Who Cares?”

Wie fühlt es sich an, von jemandem abhängig zu sein? So: Ich darf weder Hände noch Füße bewegen und nicht sprechen, sitze aber beim Abendessen. Meine Sitznachbarin versucht mir meine Wünsche von den Augen abzulesen und stellt Fragen, die ich mit Nicken oder Kopfschütteln beantworte. Verzweiflung macht sich bei mir breit. Wie soll das gehen? Liebevoll schiebt sie mir einen Löffel voll Tomatensuppe in den Mund und erkundigt sich, ob ich noch was trinken möchte. Wie eine Grinsekatze lächele ich ihr ins Gesicht um ihr meine Dankbarkeit zu signalisieren.

Mitmach-Performance “Together Forever” von Jeremy Wade. Tagsüber lief das Symposium “Who Cares?” Jetzt erleben wir am eigenen Leib, was das heißen kann: voneinander abhängig sein, anderen Menschen zu helfen, mit Fremden in Kontakt zu treten und Berührungsängste abzubauen. Dabei konfrontiert Wade die Teilnehmenden mit deren eigenen Ängsten, Gefühlen und Bedürfnissen.

Die Bühne erinnert an ein Fest: In der Mitte ist ein Buffet aufgebaut, darüber hängen zeltartig bunte Bänder herab. Sie reichen bis zu den mit Stofffetzen und Servietten dekorierten Tischen und Bänken, die rechteckig um das Festessen angeordnet sind. Namensschilder regeln, dass man neben einer fremden Person sitzt. Da ich innen sitze, soll ich mir nun vorstellen, dass ich meine Arme und Beine nicht bewegen und nicht sprechen kann. Ehe ich mich versehe, habe ich einen Löffel vegane Tomatensuppe im Mund.

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Auch Füttern will geübt sein © Holger Rudolph

Diese plötzliche Abhängigkeit fühlt sich komisch an. Da wir uns fremd sind, stellt meine Nachbarin mir persönliche Fragen, bis sie irgendwann sagt: “Oh sorry, ich bedränge dich voll.” Ich denke mir nur wie froh ich bin, dass sie mit mir spricht und irgendwas zu mir sagt. Sie ist mir sympathisch. Wie zwei alte Freundinnen teilen wir Teller und Besteck. Längst hat sich die Berührungsangst gelegt.

Das gemeinsame, abhängige Essen ist ein Höhepunkt von “Together Forever”, aber nicht der einzige. Begonnen hatte der Abend damit, dass alle – die gastgebenden Performer Jeremy Wade, Jared Gradinger, Liz Rosenfeld, Torsten Holzapfel, Björn Pätz, Dasniya Sommer und Silke Schönfleisch-Backofen ebenso wie wir, die Gäste – in drei Reihen vor einem großen, länglichen Spiegel sitzen. Eine intime Fragerunde beginnt: “Jeremy, wie möchtest du sterben?”, fragt jemand. “Silke, fühlst du dich einsam?” In Gedanken überlege ich mir eine Antwort zu jeder Frage. Als ich höre: “Marie, hast du einen Seelenverwandten?”, erschrecke ich. Und antworte etwas beklemmt: “Ich bin mir nicht sicher, vielleicht ja.”

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Schau mir in die Augen, Kleines? Zehn Minuten können dabei ziemlich lang werden. © Holger Rudolph

Weil jeder den Blicken der anderen Zuschauer ausgeliefert ist, wird die Situation zu einer Art Entblößungssitzung, einer öffentlichen Therapie, die keinen verschont. Nachdem fast jeder Name aufgerufen und ihm oder ihr eine Frage auf Deutsch oder Englisch gestellt wurde, führen uns die Performer in den Festraum. Beim Übergang gibt es ein Ritual: Jeder spuckt in eine große Schüssel, wo sich unsere Säfte vermischen.

Später schauen sich die Fütter-Paare zehn Minuten lang stumm in die Augen, während Meditationsmusik für eine entspannte Atmosphäre sorgt. Danach lagern wir auf Kissen in der Mitte des Raumes und diskutieren bei veganen Pralinen und Himbeervodka, welche drei Tätigkeiten nur in Gemeinschaft gemacht werden können. Wir bauen eine Lach-Pyramide, singen einen Kanon und tanzen: Bei lauter Musik springen wir in einer Polonaise durch den Raum und strahlen einander an. Die Geburt einer rücksichtsvollen Community ist geglückt – für diesmal.