Ein Lama und die Zukunft des Theaters

Eine Kritik in einfacher Sprache

Auf der Bühne sieht man auf dem geschlossenen Vorhang zwei Wörter: Monolog und Prolog. Gesprochen wird die humorvolle Einführung in das Stück von Jan-Christoph Gockel. Er ist heute gleichzeitig Regisseur und Darsteller. Er stellt Teile des Inventars vor: Unter anderem seinen Smoking, einen Hai und Tier-Puppen von Michael Pietsch. Diese Sachen werden heute Abend alle wiederverwertet. Man stellt sie neu zusammen, genau wie sie auch das Theaterstück aus verschiedenen Teilen zusammenstellt haben. Hinter dem Vorhang gibt es noch einen Zirkuswagen, eine Papp-Bombe und eine kleine Leinwand. Dann kommen die Schauspieler*innen in glitzernden Kostümen auf die Bühne. Dennis Fell-Hernandez stellt sie vor. So beginnt die Inszenierung „Wer immer hofft, stirbt singend“, ein Gastspiel der Münchner Kammerspiele beim Grenzenlos Kultur-Festival vol. 25.

Die Idee für das Theaterstück stammt aus einem Film von Alexander Kluge. Er heißt „Artisten in der Zirkuskuppel: ratlos“ und ist von 1968. Darin geht es um den Artisten Manfred Peickert, der bei einer Nummer abstürzt und stirbt. Deshalb übernimmt seine Tochter Leni den Zirkus. Sie möchte den Zirkus verändern, „weil sie ihn liebt“. Leni, im Stück gespielt von Julia Gräfner, wünscht sich einen Zirkus mit mehr Natürlichkeit und Rationalität.

Bitterer Erfolg

Zirkus steht für Kluge auch für das Überleben auf einem Drahtseil. Dabei bringt er ein Urvertrauen mit. Vielleicht, weil er als Kind einen Bombenangriff knapp überlebt hat. Er denkt, dass es noch eine Rettung oder die Möglichkeit von Reparatur gibt. Zirkus ist auch eine Werkstatt, wo man experimentiert. Die heutige Theateraufführung ist auch ein Experiment. Man versucht, die Grenzen zwischen Theater und Zirkus, zwischen Bühne und Publikum aufzuheben. Einmal betrachtet man das Publikum als passive Zuschauende, ein andermal als Mitwirkende. Dann werden sie von den Schauspieler*innen direkt angesprochen oder kommen auf die Bühne. Wie vier Männer zwischendurch.

Ein Mann (Michael Pietsch) links mit einer lebensgroßen Lama-Puppe und eine Frau (Johanna Kappauf, rechts), die die Lama-Puppe zu sich lockt. Im Vordergrund ist ein großer Spielwürfel, im Hintergrund ein Sofa, eine Zielscheibe und mehrere bunte Elemente, die die Zirkusatmosphäre bebildern.
Moderatorin der „Zufallsshow“ (rechts: Johanna Kappauf) versucht das traurige Lama zu sich zu locken, links: Puppenbauer und Performer Michael Pietsch, Foto: Holger Rudolph

Leider interessiert sich von den anderen niemand für Lenis Reformzirkus. Die Gruppe versucht sich an den Geschmack des Publikums anzupassen, und macht Fernsehen. In der „Zufallsshow“ verwirklichen sie die Wünsche des Publikums. Und die Zuschauer*innen lachen, jubeln und applaudieren. Es kommt sogar ein wasserspeiendes Lama auf die Bühne. Die Show ist unterhaltsam, spektakulär, großartig. Weniger begeistert wirkt Sebastian Brandes in der Rolle der Cowboyfigur Johnny Texas. Haben sie ihre Ziele und Würde geopfert? Lenis Traum ist damit nicht verwirklicht.

„Reparatur einer Revue“

Leni realisiert, dass Zirkus nicht ihre Liebe ist, sondern die ihres Vaters. Julia Gräfner sitzt bewegungslos auf einem blauen Sofa, während Arbeiter*innen die Bühne abbauen. Dabei läuft ein Lied mit dem wiederkehrenden Satz: „Der Zirkus darf nicht sterben“. Diese Ambivalenz von Musik und Bühnenaktion rührt mich. „Das war’s?“, höre ich im Publikum und fast akzeptiere ich das traurige Ende. Doch dann rettet Jan-Christoph Gockel den Abend und lässt das Stück doch weitergehen.

Leni (Julia Gräfner) auf dem Sofa, während der Bühnenzirkus hinter ihr abgebaut wird, Foto: Holger Rudolph

Auf der Leinwand sieht man die gefilmte Kantine. Die Schauspieler*innen sind ratlos. Doch diese Ratlosigkeit ist nicht negativ, sondern ein Zustand, aus dem etwas wachsen kann. Kurz danach sieht man sie als Superheld*innen verkleidet draußen vor dem U17. Man sieht, wie sie auf die Hinterbühne im Kleinen Haus marschieren. Sie entschärfen die Bombe, denn: es gibt immer eine Rettung! So auch für das Theater. Denn mit dem Zirkus ist hier auch das Theater gemeint. Und wie das in der Zukunft aussehen könnte, zum Beispiel: inklusiv.

Während des Stückes erlebe ich Schauspiel, Musik, Tanz, Lichter, Gerüche, Live-Aufnahmen und Filmausschnitte. Es fällt mir nicht leicht, zu entscheiden, worauf ich mich konzentrieren soll. Doch die Elemente vereinigen sich. So wird aus dem Chaos ein perfekter, magischer Moment. Das Publikum feiert das Stück mit stehendem Applaus. Und ich finde auch: der Abend war fantastisch.

Hier finden Sie noch eine weitere Kritik zur Inszenierung “Wer immer hofft, stirbt singend” aus der Redaktion; und zwar von Mahfam Shoar Nozhat.