Wünsche an die kommende Gemeinschaft

Andreas Meder im Gespräch
Andreas Meder im Gespräch © Yana Prinsloo

Seit 1997 organisiert Andreas Meder das Festival “Grenzenlos Kultur”.
Im Interview löchert ihn Bloggerin Yana Prinsloo mit Grundsatzfragen über die kommende Gemeinschaft, Wünsche an Europa und den Diskussionsbedarf bei Inklusionstheater.

Herr Meder, das Motto von Grenzenlos Kultur vol. 15 heißt “Eine kommende Gemeinschaft”. Warum dieses Motto?

Dieses Festival ist zunächst einmal ein Projekt des Kultursommers Rheinland-Pfalz. Wir werden zwar nicht gezwungen, deren Motto aufzugreifen. Für uns ist es aber eine selbst gestellte Aufgabe, dass wir dem immer etwas abgewinnen, was zu uns, unseren Zielsetzungen und unseren Künstlern passt. In diesem Jahr ist das Motto nun mal “Eurovision“.
Zwar ist das kein Thema für uns, auch nicht unbedingt fürs Theater, schon gar nicht mit behinderten Künstlern, der Begriff Vision dagegen schon. Er ist ja auch etwas, was unser Festival durchzieht. Es geht uns immer um Lebensbedingungen behinderter und nicht-behinderter Menschen innerhalb der Gesellschaft. Daher lag es nahe, sich um solche Visionen in einer kommenden Gesellschaft Gedanken zu machen.

Warum denken Sie, dass es für das Theater bzw. Inklusionstheater nicht möglich ist, sich mit Europa auseinanderzusetzen?

Wir können nur das zeigen, was uns angeboten wird. Es gibt keine Theaterstücke mit geistig behinderten Künstlern, die momentan Europa als Thema aufgreifen. Natürlich kann man es sich einfach machen, sich irgendwas raus nehmen mit Blick auf den Kulturkanon. Aber wenn man dann zufälligerweise einen “Faust” findet, dann kann man nicht sagen, dass man mit diesem Theaterfestival jetzt europäische Kulturgeschichte abgedeckt hat. Von daher steht uns das Motto nicht sehr nahe. Wir haben aber trotzdem eines gefunden, das in sich schlüssig und kohärent ist und durchaus dazu passt. Von daher: Alles gut!

Welche Produktion finden Sie unter dem Motto-Aspekt besonders spannend? Haben Sie eine Präferenz?

Wir freuen uns besonders auf unsere Eigenproduktion “Zusammenarbeit“. Die entspricht dem Leitgedanken natürlich sehr, weil wir da sechs behinderte und sechs nicht-behinderte Performer aus Berlin zusammenbringen, die sich überhaupt nicht kennen und sich nun paarweise zum Arbeiten zurückziehen. Da kann sehr viel Spannendes passieren.
Auf einer ganz ähnlichen visionären Ebene hat auch unser großartiges Kinder-Fest “Kraut und Rüben” diesem Thema entsprochen. Es hat mich wirklich sehr froh gestimmt, dass es uns möglich war, so viele Leute davon zu informieren und zu überzeugen, das hier mal anzugehen.
Tausende Leute waren den Nachmittag hier. Darunter sehr viele behinderte Kinder, die wir nicht selbstverständlich erreichen, aber auch viele nicht-behinderte Kinder. Das war eigentlich das fröhliche Miteinander, was man sich für ein inklusives Kinder-Kulturfest – das wir ja hiermit erfunden haben – wünschen muss.

Apropos Eurovisonen: Wie bewerten Sie den Umgang mit Menschen mit Behinderungen innerhalb von Europa?

Gerade letzte Woche habe ich mich mit den Leitern der Theatergruppe Mattwerk getroffen. Eine Gruppe aus Rotterdam mit sehr engagierten Schauspielern mit Behinderungen, die es schon sehr lange gibt, die sogar zu der Gründergeneration der festen Theater (mit eigenen Häusern und Regie-Stellen) mit behinderten Künstlern gehört. Die berichten, dass es ihnen sehr schlecht geht und dass sich gerade generell die Finanzierung behinderter Menschen in den Niederlanden ändert. Momentan werden behinderte Menschen dort neu beurteilt und vielleicht als doch zu intelligent eingestuft, um einfach nur von staatlicher Förderung leben zu dürfen. Stattdessen sind sie jetzt in der Arbeitslosigkeit und dieses Theater wird wahrscheinlich in einem Jahrschließen müssen, weil es nun an der Förderung fehlt.

Sind die Niederlande ein Einzelfall?

Die Niederlande waren immer ein sehr progressives Land. Die Behinderten-Föderung wurde dort vorbildlich umgesetzt. Im Zuge der Euro-Krise gerät das Land nun ziemlich unter Druck. Dinge, die man eigentlich als selbstverständlich angesehen hat, werden wieder in Frage gestellt.
Das sieht in den südlichen Ländern Europas nicht anders aus. Es gibt eine Tanzgruppe auf Madeira, die – als wir sie zum ersten Mal in Mainz einluden – noch mehrere feste Stellen hatte. Die haben jetzt keine Stellen mehr, außer der des künstlerischen Leiters, der irgendwie schauen muss, wie er überlebt und wie er trotzdem Gastspiele möglich machen kann.
Von daher sieht man schon: Wenn es einer Gesellschaft schlecht geht, wird zuerst an denen gespart, die keine große Lobby haben und die Gesellschaft vermeintlich belasten.

Was wünschen Sie sich für die “kommende Gemeinschaft”?

Für die kommende Gemeinschaft bei uns wünsche ich mir, dass wir gleichberechtigt in einer Gesellschaft zusammen leben können und jeder auch die Möglichkeit hat, in einem würdigen Maße daran Teil zu haben. Ein Großteil von uns ist von Altersarmut bedroht. Da sieht man ja auch, dass man den Werbebildern gar nicht mehr entsprechen kann und vielleicht große Mühen hat, mit seinen Kindern in den Urlaub zu fahren. Daher wünsche ich mir eine gerechtere Gesellschaft, in der eben auch behinderte Menschen ihr Recht finden und wir alle gemeinsam glücklich werden können.

Gruppen wie Monster Truck oder Arbeiten des Choreographen Jérộme Bel wie “Disabled Theater” stoßen sehr viele Diskussionen an, auch auf diesem Festival. Wie stehen Sie zu Abenden, die ihren Zuschauer heraus- und teilweise sehr überfordern?

Das wünschen wir uns ja eigentlich von allen Arbeiten, dass sie den Zuschauer überraschen, herausfordern und zum Nachdenken anregen. Klar, es gibt bei uns bestimmt auch sanfte Integration. Produktionen, die man sich anschaut, schön findet und in diesem Moment behinderten Menschen auf der Bühne auf gleicher Augenhöhe begegnet, sie nicht als Menschen sieht, die ihr Geld auf dem zweiten oder dritten Arbeitsmarkt verdienen, sondern jetzt hier auf dem ersten, als Schauspieler. Dass sie einen begeistern, man klatscht und einfach einen großartigen Abend erlebt. Aber es ist natürlich auch gut, wenn man grundsätzlich darüber nachdenkt, was das jetzt alles bedeutet. Ob man da einen voyeuristischen Blick auf die Leute wirft und das vielleicht gar nicht möchte. So kann man das auch bei Jérộme Bels Stück diskutieren. Ob sich die Menschen mit Behinderung da überhaupt ordentlich präsentieren dürfen, oder ob sie vorgeführt werden. Das ist ja grundsätzlich im Umgang mit behinderten Menschen, oder unser aller Umgang sehr zuträglich, wenn man darüber diskutiert.

Bewirken diese Abende auch etwas jenseits der Theaterkreise?

Oh, das ist eine Frage, der ich vielleicht nicht gerecht werden kann.
Gerade bei diesen beiden Arbeiten habe ich mich gefreut, dass es darüber wieder dazu kam, dass das gehobene Feuilleton sich mit grundsätzlichen Fragen zum Thema Kunst und Behinderungen auseinander gesetzt hat. Denn, auch wenn wir hier in Mainz dieses Festival machen – zum 15. Mal – und wir eine große Medienöffentlichkeit haben, es ging dann wieder grundsätzlich darum, ob behinderte Menschen auf der Bühne dazu verdammt sind, immer authentisch zu sein. Solche Betrachtungen wurden schon länger nicht mehr angestellt. Von daher sind es nicht nur spannende Theater-Ereignisse, sondern auch wichtige Werke für die Bewegung, wenn man es als Bewegung ansehen möchte. Dank Monster Truck und Jérộme Bel wird wieder grundlegend darüber gesprochen.

Wer sich zunächst über Andreas Meders persönliche Beziehung zu Grenzenlos Kultur und seine Motivation informieren möchte, das Festival alljährlich zu veranstalten, der lausche dem Blog-Interview von 2012.