Ein Chromosom mehr als ihr

Wer so intensiv, leidenschaftlich und zugleich selbstironisch tanzt, muss mit Jubelstürmen rechnen. © Michael Bause

Elf Stühle und elf Wasserflaschen auf einer sonst leeren Bühne. Eine junge Frau, die vor einem Mischpult sitzt. Ein Mikrofon. Das ist alles, was der französische Starchoreograf Jérôme Bel für sein “Disabled Theater” an Beiwerk braucht. Ansonsten ist es ein Abend der Künstler. Elf Frauen und Männer, Schauspieler des Zürcher Theater HORA, stehen im Mittelpunkt – sie, ihre Gedanken, ihre Wünsche und ihre Behinderung.

Die Schauspieler kommen jeweils einer nach dem anderen auf die Bühne und bleiben für eine Zeit vor dem Publikum stehen. Die eine blickt herausfordernd, der andere schaut lieber auf den Boden. Bei dem einen sind es vielleicht wenige Sekunden, bei der anderen mehrere Minuten, wie ein Zuschauer mit einem Blick auf die Uhr feststellt. Dann gehen sie wieder ab. Auf die Bühne zu kommen und für eine Minute stehen zu bleiben war das erste, worum Jérôme Bel die Künstler zu Beginn der Arbeit gebeten hat. Das erzählt Simone Truong, die sich als Assistentin und Übersetzerin vorstellt, für den Abend aber vielmehr als Vermittlerin zwischen dem Probenprozess und der von Bel bestimmten Dramaturgie fungiert. Denn es passiert nicht mehr als eben das, was der Regisseur seine Schauspieler in den Proben gefragt und wozu er sie aufgefordert hat  – ihren Namen nennen, ihre Behinderung vorstellen, ein Tanzsolo vorbereiten und schließlich erzählen, was sie selbst und vielleicht die Verwandten von dem Abend halten.

Die scheinbar einfache und durchsichtige Struktur hat enormes Wirkungspotential. Dann nämlich, wenn die Schauspieler offen auf die Fragen antworten und die Zuschauer mit ihrer Behinderung konfrontieren. “Ich habe eine Lernschwäche. Im Rechnen bin ich etwas langsamer als die sogenannten Normalen”, sagt zum Beispiel Miranda. “Ich habe Trisomie 21, das bedeutet, dass ich ein Chromosom mehr habe als ihr im Publikum”, erklärt Matthias. “Ich habe das Down-Syndrom und mir tut es leid”, sagt Julia und dreht sich mit einem Schluchzen um. Die Direktheit und Ehrlichkeit der behinderten Künstler überwältigen derart, dass die Zuschauer regelrecht erstarren. Kein theaterspezifisches Hustkonzert, kein raschelndes Bonbonpapier, kein nervöses Hin- und Herrutschen sind zu hören, nur die absolute, durchdringende Stille. Im nächsten Moment stellen die Darsteller ihre selbstchoreografierten Tanzsolos vor. Die Stimmung schlägt um, es wird laut und das Publikum lacht über ausgefallene Mensch-Stuhl-Pas-de-deux und die Ausgelassenheit auf der Bühne. Die Bandbreite der verwendeten Musik – von Schlager über Hip Hop und Pop bis Jazz – beeindruckt genauso wie die außergewöhnliche Körperbeherrschung und das präzise Rhythmusgefühl der Tänzer.

Eine “Freakshow” sei das, eine Ausstellung der Behinderten, die “wie Tiere sind, mit Fingern in der Nase oder im Mund”, so die Eindrücke der Eltern und Geschwister, von denen die Schauspieler im Anschluss an die Choreografien berichten. Jede mögliche Kritik an „Disabled Theater“ nehmen die damit selbst vorweg. Kritik, die bis hierher bei vielen Zuschauern wahrscheinlich völlig abwegig war, denn eine “Freakshow” ist der Abend keinesfalls. Dafür verlangt er zu viel ab – zu viel Geduld, zu viel Betroffenheit, zu viel Auseinandersetzung. Dafür ist die Inszenierung außerdem viel zu ernst und zu selbstironisch. Dafür besitzt sie zu viel Verstörungspotential – subtiles und gleichzeitig durchschlagendes. Dafür ist sie einfach zu gut. Dafür hinterlässt sie zu viele offene Fragen.

Was ist “Disabled Theatre”, also “Behindertes Theater” überhaupt? Warum ist es behindert? Weil es von behinderten Menschen gemacht wird? Oder weil es anders ist, weil es konfrontiert, provoziert, erregt, vielleicht auch ein Kopfschütteln hervorruft? Wie viel von dem Gezeigten und vermutlich “echten” ist tatsächlich Theater? Traut der “Normale” den behinderten Darstellern vielleicht nicht zu, ihre Selbstdarstellung spielen zu können? Schließlich handelt es sich bei ihnen um professionelle Schauspieler, wie sie selbst zu Beginn der Vorstellung betonen. Muss sich der Zuschauer für seine voyeuristischen Gelüste schämen? Zumindest auf diese letzte Frage gibt Jérôme Bel im Programmzettel eine Antwort. “Wenn man nicht ins Theater geht, um Voyeur zu sein, um zu sehen, was man nicht sehen darf, dann verstehe ich nicht, warum man überhaupt ins Theater geht.”