Von dem Traum, die Welt zu bewegen

Nach der Fahrkartenkontrolle vor dem Orchestersaal im Staatstheater Mainz nehme ich meinen Sitzplatz in der Linie U17 ein. Hinterer Bahnteil, Großraum, Sitz am Gang. Während weiter mitreisende Gäste in geordneter Ruhe ihre Plätze aufsuchen, beobachte ich in dem mit Hockern, Stühlen und einem Tisch möblierten vorderen Bahnteil eine angeregte Unterhaltung zweier Männer, welche die Raumaufteilung eines mit Kreide auf den Boden skizzierten Grundrisses diskutieren. Die Türen schließen sich, die experimentelle Gedankenreise beginnt.

Die biografische Bahnfahrt „Subway to Heaven“ des freien und inklusiven Berliner Theaters Thikwa findet im Rahmen des Festivals Grenzenlos Kultur Vol. 25 in Mainz statt. Ein festivaljubiläumsbedingtes Wiedersehen mit einer Inszenierung, die 2015 schon einmal zu Gast war. Schauspieler Torsten Holzapfel und Martin Clausen machen sich unter der regieführenden Reiseleitung von Gerd Hartmann tanzend, singend und nachdenklich reflektierend auf den Weg durch die Erfahrungswelten von Torsten Holzapfel.

Erste Station: Geschichte sein und Geschichte schreiben

In einem amüsant verworrenen Spiel der Identitätsfindung verrät sich bereits zu Beginn die unbeschwerte Dynamik der Aneignungsstrategien von Holzapfels Leben. Diese gedankliche Durchsage schallt mir wie ein Reisehinweis entgegen, meine Wahrnehmung im weiteren Fahrtverlauf für Mehrdimensionalität und Widersprüche zu öffnen. Konkreter: Beide Darsteller spiegeln einander abwechselnd, während sie groß gestikulierend Bewegungsabläufe des Alltäglichen durchgehen, so etwa das Anziehen von Kleidung. Verhandlungsgegenstand dabei ist beispielsweise die Bedeutungstiefe eines offenstehenden Hosenschlitzes, oder ein Stück ‚Etwas‘ zwischen den Zähnen. Das immer wieder eintretende Ergebnis: Das Eigene und das Auffällige werden reduzierend angeglichen. Wir, das anwesende gesellschaftliche Korrektiv, versetzen die Momente vorschnell urteilend ins Komische. Weitere scheinbar verstreute Anläufe der Darsteller, sich der gesellschaftlichen Erwartung entsprechend herzurichten, hinterfragen das kontrollierende Element des Gelächters und lassen die grundlegend existenzielle Überlegung aufkommen: Wem oder was will ich damit eigentlich gerecht werden? Holzapfels idealisierter Anspruch einer Gesellschaft in Bewegung setzt im Denken an.

Martin Clausen und Torsten Holzapfel stehen einander in Unterwäsche gegenüber und strecken energisch die Zunge heraus. Die abgespreizten Hände an den nach unten gestreckten Armen beider Darsteller verdeutlichen die investierte Kraft des Ausdrucks.
Martin Clausen und Torsten Holzapfel bei ungehemmter Selbstbespiegelung in “Subway to Heaven”, Foto: Holger Rudolph

Das mir geöffnete Bewusstsein gleicht einem Fahrtrichtungswechsel. Über die anfangs belächelten Unregelmäßigkeiten triumphiert die unermüdliche Kreativität der Erscheinungsbilder von Holzapfel und Clausen gegenüber sozialem Konformismus. Umso drastischer wirkt vor diesem Hintergrund das wechselseitig anekdotisch sprechend sowie tanzend gezeichnete Porträt eines Mannes, dessen Kindheit von Missbrauch und Verwahrlosung statt der Möglichkeit liebevoller Welterkundung erzählt. Der Künstler selbst fühlt sich zwar von seiner Vergangenheit berührt, aber nicht mehr gelenkt. Mit diesem Prinzip steuern Holzapfel und Clausen fortlaufend weitere inhaltliche Bahnhöfe an und füllen das Reiseerlebnis mit der versprochenen leidenschaftlichen Lebendigkeit des vorangestellten Selbstbekenntnisses aus. Die Intensität ihres Spiels verwischt zunehmend physisch wie metaphorisch den zugrundeliegenden beengenden Kreidegrundriss aus Holzapfels Kindheit.

Nächster Halt: Aus dem Leben auf die Bühne

Zwei Schauspieler sinnieren über ihre Berufung. „Braucht die Welt überhaupt Theater?“, fragt Clausen seinen Kollegen. „Ja“, antwortet Holzapfel ohne Zögern. „Die Welt findet nicht zuhause statt. Die Menschen müssen sich bewegen, sich begegnen. Nur im Theater ist alles Leben lebendig“, beharrt Holzapfel innig. Ganz anders Clausen. Dieser nimmt eine aufkommende Theatralisierung sämtlicher Lebensbereiche wahr. „Alles ist Performance.“ Weiter ist ein Theaterabend für Holzapfel die Realisierung menschlicher Sinnsehnsucht. Nach Clausen gehen Menschen ins Theater, um die Schauspiellust der Künstler*innen zu befriedigen. Während Holzapfel die Kunsthaltigkeit seiner Darstellungen ohne den Anspruch auf Verständnis gewährleistet sieht, ist Kunst für Clausen nicht das Eigene, sondern das, was „die Anderen“ tun. Die humorvolle Kontroverse zwischen Kunst und Kunststoff hallt in den immer wieder einsetzenden Bewegungssequenzen aus tänzerischen Schattenspielen und Verfolgungsjagden nach.

Martin Clausen schwingt von einem auf das andere Bein hüpfend durch den Bühnenraum. Die Arme und Hände sind flügelartig an den Oberkörper angelegt. Dicht verfolgt von Torsten Holzapfel, der die hüpfende Flugbewegung nachahmt. Holzapfels Arme holen von oben nach unten wedelnd Schwung für den nötigen Auftrieb. Beide bewegen sich bei ihrem tänzerischen Ausflug um die weißen Hocker und den im Hintergrund stehenden hellbraunen Tisch mit zwei Stühlen herum.
Tänzerische Zwischentöne inmitten von lebendigen Grundsatzdiskussion, Foto: Holger Rudolph

Zwischenstopp: Die Gesichter Berlins und U-Bahn-Liebe

„Was ist Berlin für dich?“ Die Darsteller bieten uns, der Reisegruppe, einen breiten Exkurs zwischen fettig triefender „Drehspießanimation“ und viel Schwärmerei für die blühenden „goldenen Zwanziger“.  Clausen betet touristische Allerweltssätze hinunter, wohingegen Holzapfel alte Berliner Volkslieder im Duett mit einer alten Drehorgel anstimmt. Die zu Beginn der Fahrt angespielte Mehrdimensionalität wird erneut demonstrativ ausgelebt. Berlin ist für Holzapfel nicht nur pulsierende Inspirationsquelle, sondern auch unmittelbar mit seiner Faszination für U-Bahnen verbunden. In mehrsprachigen von Glockentönen untermalten Durchsagen führt er uns durch seine verinnerlichte Fahrerfahrung. Der größte Traum des selbsternannten „Architekten für friedliche Weltverbesserung“: Ein weltweites U-Bahnnetz, um die Menschheit wie im Theater zu bewegen und zu verbinden. Unterdessen vernetzt Clausen den Bühnenraum mit dicken roten, blauen und gelben Wollfäden zu sinnbildlichen Welt-U-Bahnen.

Torsten Holzapfel sitzt auf einem weißen Hocker mittig auf der Bühne und erzählt von seinen erdachten weltweiten U-Bahn-Verbindungen. Mit über den Kopf erhobenen Armen deutet Holzapfel ein Fenster an, durch welches er mit aufgeregtem Blick die imaginäre Fahrt verfolgt. Martin Clausen läuft währenddessen von links nach rechts mit einem großen blauen Wollknäuel über die Bühne. Dieses wickelt er um die im Bühnenraum verteilten Pfeiler und spannt so die von Holzapfel grade beschriebene Fahrtstrecke symbolisch.
Torsten Holzapfel schwelgt in leidenschaftlichen U-Bahn-Fantasien, während Martin Clausen das Netz dazu erstellt, Foto: Holger Rudolph

Endstation. Sie erreichen den folgenden Anschluss rechtzeitig: das Zukünftige

Die biografische Bahn rollt in den Zielbahnhof der Gegenwart ein. Holzapfel und Clausen fragen nach Umsteige- und Anschlussmöglichkeiten. Überraschend schnell einigen sich beide Schauspieler auf eine Mischung zwischen existenzieller Angst und freudiger Erwartungshaltung. Ein Gefühl, das dem Anstarren einer noch leeren Leinwand gleichkommt, während die Fantasie bereits das Verwirklichte im Möglichen zu skizzieren versucht. Ein Gefühl, das diesen Streckenabschnitt für mich bemerkenswert mit derselben ungewissen Balance von Kontingenz und Notwendigkeit ausfüllt, wie bereits die Bedeutungsverhandlung von Alltäglichkeit zu Beginn der Fahrt.

Doch die Reise endet nicht mit abstrakten Bildern. Holzapfel, der neben seinem Schauspielberuf auch als bildender Künstler tätig ist, geht mit Clausen kuratorisch die zunächst leeren gespannten Wollfäden ab und diskutiert seine dort sprachbildlich hängenden Werke. Anschließend an den imaginären Austellungsrundgang werden die Werke tatsächlich noch mit auf die Bühne geholt. Das schließlich räumlich konkretisierte Zukunftsprinzip Clausen und Holzapfels, die Einrichtung der Gegenwart in einer erwarteten Zukunft, bildet für mich die finale Sehenswürdigkeit auf der bewegenden Kurzstreckenfahrt zu mehr Ambiguitätstoleranz.