Tabu Sex

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Matthias Vernaldi, engagierter Streiter für einen offenen Umgang mit Sexualität und Behinderung, mit seinem Assitenten © Holger Rudolph

Beim Symposium “Who Cares?” widmen sich Matthias Vernaldi, Judith Aregger, Siegfried Saerberg und Maximilian Haslberger dem Thema Sexualität und Behinderung

“Ich will Sex”, offenbart Matthias Vernaldi. Unsichere Blicke im Publikum. Denn Vernaldi sitzt im Rollstuhl. Wegen seiner Behinderung hat er es schwer, seine Sexualität autonom zu leben. Dabei ist das Gefühl des Begehrens bei jedem Menschen vorhanden. Jeder Mensch ist ein sexuelles Wesen und braucht Berührung und Nähe. Logisch? Offenbar nicht. Die Zone zwischen dem Recht auf Selbstbestimmung behinderter Menschen und die Stellung dieses Rechtes in unserer Gesellschaft ist immer noch sehr neblig.

Beim diesjährigen Symposium “Who Cares?” nähern sich vier Experten nüchtern und kompromisslos dem schwierigen Thema Sexualität und Behinderung an. Tabu meets Sexability. Wie kommen Menschen damit klar, wenn ihnen Sex verwehrt wird? Und was bedeutet es diese Menschen als Sexualarbeiter*in zu begleiten? Offen erzählt Matthias Vernaldi von seinen Erfahrungen. Dass er zwar im Rollstuhl sitzt, aber trotzdem Sex hat. Seit vielen Jahren berät er Menschen mit Behinderung, gründete 2000 die Initiative “Sexibilities – Sexualität und Behinderung”. Es ist die Oberflächlichkeit einer Gesellschaft, die sich nicht mit dem Begehren von Menschen mit Behinderung auseinandersetzen will. Denn: “Behinderung ist unattraktiv”, sagt Vernaldi mit beißendem Spott. “Ich kann nicht mit Behinderten”, bekommt auch Sven, einer der zwei Protagonisten in Maximilian Haslbergers Film “Die Menschenliebe” oft ins Gesicht gesagt. Die Kehrseite des gesellschaftlichen Systems, in der es vermeintlich keine Tabus (mehr) gibt, wird an diesem Tag schmerzlich bewusst: Der Versuch, das Thema aus der unberührbaren Zone zu holen, befindet sich noch in der Testphase.

Was bleibt?

“Behinderten Menschen wird auch eine Sexualität zugeschrieben, bevor sie sich entscheiden können”, sagt Judith Aregger. Und diese Sexualität bedeutet meistens: ohne Sex! Was bleibt dann übrig? Seit Jahren hilft die Sexualbegleiterin geistig wie auch körperlich behinderten Menschen Sexualität zu erleben. Sie betont vor allem die Wünsche von Frauen. “Die brauchen das weniger”, werde oft von nichtbehinderten Betreuern und Angehörigen angenommen. “So ein Blödsinn.” Hier klafft die wohl größte Lücke in der Sexualarbeit. “Sexualbegleitung ist wichtig und noch lange nicht vollwertig in unserer Gesellschaft angekommen. Sie ist aber auch keine Lösung”, betont Aregger. So wichtig es sei, dass Menschen mit Behinderung ihre Lust und ihr Begehren ausleben dürfen, so bedauerlich ist, dass Sexarbeit bisher für die meisten Menschen mit Behinderung die einzige Möglichkeit ist, Nähe zu spüren, Begehren auszuleben, zum Höhepunkt zu kommen.

Sex in der Nahaufnahme

Dr. Siegfried Saerberg wiederum hat mit dem von ihm herausgegebenen Buch “Sexistenz – Nahaufnahmen”, das er beim Symposium vorstellt, auf künstlerische Weise die Aufmerksamkeit auf das Thema Sexualität und Behinderung gelenkt. Autor*innen mit Behinderungen haben erotische und sinnliche Texte geschrieben und Bilder geschaffen, die auf der beiliegenden CD auch hörbar werden. Trotzdem bleiben die Schlagworte Behinderung und Sexualität weiterhin ein Paradoxon, weil sie im Tabusumpf unseres Alltags feststecken: Der so gar nicht pornografische Text einer geistig behinderten Autorin durfte nicht einmal unter Pseudonym veröffentlicht werden, weil deren greise Mutter das untersagte, wie Saerberg erzählt. Die Frage bleibt offen, wann Sexualität und Behinderung als normale Kategorien in unsere Gesellschaft ankommen. Dabei sind Sehnsucht und Begehren unüberbrückbare Emotionen, die bei jedem Menschen vorhanden sind. Das sieht auch Aregger so: “Sex ist kein Privileg. Es ist ein Recht.” Jetzt muss das nur noch in der Gesellschaft ankommen.