Inspirar, Espirar

Arnasa (bask.) – (dt. atmen), Verb, Luft einziehen und ausströmen lassen.

„Das Erste, was wir machen, wenn wir geboren werden, ist einatmen und das Letzte, was wir machen, bevor wir sterben, ist ausatmen.“ Unsere Atmung begleitet uns durch unser ganzes Leben. Wir atmen intuitiv, denken meistens nicht aktiv darüber nach wie wir atmen, dass wir atmen oder ob wir atmen. Genau wie das Leben dreht sich die Performance „Arnasa“ der spanischen Tanztheater-Gruppe Organik Dantza um die Atmung.

Mikel Aristegui tanzt in großen Bewegungen. Links hinter ihm sitzt Raúl García, der seine E-Gitarre spielt. Er schaut zu Carlos Alonso und Pilar Andrés, welche rechts hinter Aristegui zusammen tanzen.
Atmen ist Bewegung: Das Ensemble von „Arnasa“; Foto: Holger Rudolph

Atmen ist das Motiv dieses Gastspiels im Rahmen von Grenzenlos Kultur Vol. 24. Die Vorstellung beginnt und aus dem Off hören wir jemanden atmen. Gleichmäßig. Es wirkt beruhigend. Ein leerer Raum mit weißem Tanzboden. Links vorne stehen eine E-Gitarre, ein Verstärker und ein Mikrofon. Raúl García kommt mit einem Tretroller auf die Bühne gefahren und fährt einige Kreise. Ihm folgen Mikel Aristegui und Pilar Andrés. Sie bewegen sich in großen, ausschweifenden Bewegungen, stellen Stühle auf. Zuletzt betritt Carlos Alonso den Tanzboden. In der Hand hält er ein Mikrofon. Seine Atmung ist es, die wir hören. Er übergibt sein Mikrofon an García, welcher bewusst ruhiger und tiefer atmet. Alonso, Aristegui und Andrés bewegen sich pulsierend zur Atmung Garcías. Einatmen: sie richten sich auf. Ausatmen: sie sinken in Richtung Boden. Mit je einer Hand an Mund und Nase eines anderen erfühlen sie ihre Atmung, atmen gleichzeitig und erwecken den Eindruck, ihre Luft von einer großen, vereinten Lunge zu beziehen. Sie wirken fast, als würden sie selbst zu Atmen, zu Luft und ich stelle mir vor, wie sie plötzlich abheben und schweben.

Von den Tänzer*innen wird das Thema der bewussten Atmung auch auf das Publikum übertragen. Mikel Aristegui leitet einige kollektive Atemübungen an. Es ist 19.40 Uhr in einem dunklen Bühnenraum 17 Meter unter der Erde. Mein Tag war anstrengend, ich werde müde. Mit den Worten „inspirar, espirar.“ (dt. einatmen, ausatmen) gibt Carlos Alonso dem Publikum die Atemfrequenz vor. Seine beruhigende Stimme erinnert an einen Entspannungscoach, einen sehr guten – neben mir entdeckt ein Mann seine Atmung plötzlich scheinbar völlig neu und den Rest des Abends höre ich von rechts genuss- sowie geräuschvolle Atemgeräusche.

„Man erinnert sich nur an seine Atmung, wenn sie nicht zufriedenstellend ist.“ Atmen ist nicht immer einfach, passiert nicht immer von alleine. Doch wenn wir aufhören, sterben wir. Das Ensemble untersucht Arten und Weisen, in denen die Atmung temporär unterbrochen oder bewusst geändert wird: Sprechen, Husten, Singen, Lachen oder sich Verschlucken. Sie bringen ihre Atmung bewusst auf eine höhere Frequenz, indem sie schnell mit Stühlen über die Bühne tanzen, Superman spielen oder sich anderweitig körperlich verausgaben. Durch das Mikrofon verstärkt, bilden sie die Veränderung ihrer Atmung auditiv ab. Und wie beeinflusst einen der Atem anderer? Gemeinsames Atmen beruhigt. Man kann Sicherheit und Geborgenheit im Atem eines anderen finden. Eine lange, sehr intensive und liebevolle Kontaktimprovisation von Mikel Aristegui und Pilar Andrés lässt über eigene Erfahrungen reflektieren. „Sich anderen anvertrauen und darauf vertrauen, dass alles gut ist.“ Wie atme ich im Arm eines geliebten Menschen? In meinem Kopf entstehen Bilder einer langen Umarmung. Den Kopf auf der Brust eines größeren Menschen. Von starken, warmen Armen umschlungen. Wollpulloverfasern in meinem Mund. Das dringende Bedürfnis den Kopf doch langsam mal zur Seite zu drehen, um tief Luft zu holen. Schwerelos wirkende und fließende Bewegungen der beiden Tänzer*innen holen mich zurück ins Hier und Jetzt.

Pilar Andrés tanzt ein Solo in orangenem Licht. SIe steht auf dem Boden und hat ihren Körper nach rechts geneigt, dass der Oberkörper fast horizontal ausgerichtet ist. Im dunklen Hintergrund links hinter ihr steht Mikel Aristegui, welcher eine Hand auf seine Brust und eine auf seinen Bauch hält. Er schaut nach vorne.
Im Scheinwerferlicht: Pilar Andrés in „Arnasa“; Foto: Holger Rudolph

Die Aufführung wird musikalisch unter anderem untermalt von Raúl García, der auf der E-Gitarre ruhige Melodien über atmosphärische Klänge spielt. Diese unterstreichen das lockere Ambiente im Raum. Diese ruhige Soundkulisse wird jedoch zwischenzeitlich unterbrochen, beispielsweise durch ein lautes, schnelles Rocksolo, bei dem García seine Gitarre durch die Luft eines Handventilators zum Klingen bringt oder durch eine kurze Karaokeeinlage zu Stings „Every breath you take“.

Schade ist, dass die deutsche Übersetzung der spanischen Texte, welche auf die Rückwand projiziert wurden, sowohl orthografisch fehlerhaft als auch dem Sprechtempo nicht angepasst wurde und zudem inhaltlich unvollständig war. Wer Spanisch versteht, konnte gut folgen. Anderen entging leider so mancher Witz und Gedanke. Auch eine Traumreise, bei welcher man die Augen nicht schließen konnte, damit man den Text auf der Rückwand zu lesen, funktioniert nur mäßig.

Unabhängig davon ist „Arnasa“ ein gelungener Tanztheaterabend, der mit einem wunderschönen, von allen Tänzer*innen gemeinsam gesungenen Lied in baskischer Sprache zu seinem Ende findet. Das Fazit des Abends: Atmung kann Superkräfte verleihen. Tief durchatmen verleiht Stärke und setzt Kräfte frei. Sie kann bei Stress für Ruhe Sorgen und ist damit der Schlüssel zu Entspannung und Zufriedenheit. Atmen ist ein so einfaches und selbstverständliches Mittel um Kraft zu generieren, auf das man sich beziehen kann, egal wann und wo man ist. Es lohnt sich, sich darauf zu konzentrieren. Mindestens der Mann rechts von mir hat vielleicht etwas fürs Leben gelernt.

„Immer wieder tanzen die Lungen. Mit oder ohne Musik. Schön tanzen sie.“