Über Alltägliches hinwegsehen

Zur Ruhe kommen, Überflüssiges ausblenden und die Konzentration, wenn auch nur für einen Moment, einem konkreten Gegenstand widmen. Das Phänomen der kontrollierten und bewussten Wahrnehmung ist in unserer schnelllebigen Gesellschaft zur Seltenheit geworden. Berauscht durch den Gedanken, unser Dasein so effizient wie möglich zu leben, finden wir uns in einem die Sinne überflutenden Hamsterrad wieder. Bleibt da überhaupt noch ein über das Alltägliche hinwegsehender Sinn für das Ästhetische? Wie können wir etwas mit ästhetischem Blick betrachten, wenn wir diesem Moment der bewussten Wahrnehmung keine Zeit einräumen?

Gegen jene Entwicklung tritt die Performance-Installation ,,kaleiDANCEscope” von Tümay Kılınçel und Cornelius Schaper alias SHOULD-I-KNOW an. Das One-on-One sensibilisiert die Sinne mit wenigen, wirkungsvollen Mitteln für eine Wahrnehmung, die dem Betrachteten wieder gerecht wird.

Auf dem Mainzer Gutenbergplatz steht das kaleiDANCEscope. Interessierte Passant*innen warten davor in einer Reihe stehend auf den Einlass.
Passant*innen treffen auf dem Mainzer Gutenbergplatz auf das kaleiDANCEscope; Foto: Holger Rudolph

Ein rosa-violett angestrichener Wohnwagenanhänger mit der Aufschrift ,,kaleiDANCEscope” steht auf dem Mainzer Gutenbergplatz. Musik aus dem Inneren dringt nach außen, der Anhänger bebt im Takt. Davor stehend, empfängt Monita Wagma, Verantwortliche für das DJ Set, Neugierige wie Interessierte und lädt Zuschauer*innen dazu ein, sich eine Tanz-Performance auszusuchen. Ein übersichtliches Programmheft stellt die auszuwählenden Tänze anhand ihrer Thematik (z.B. „Death Dance“ oder „Justify my Love“) vor, betont den Einsatz besonderer Requisiten wie etwa Stöcke oder Fächer, und bietet eine Kurz-Vorschau, vergleichbar mit einer Triggerwarnung, der auf die Sinne wirkenden Effekte. Eine Übersicht der Auswahlmöglichkeiten steht dabei auch in leichter Sprache zur Verfügung. Das Repertoire der Tänzer*innen umfasst sowohl modernes Tanztheater nach dem Vorbild von Pina Bausch, bekannte Nachtclub- und Musikvideochoreografien sowie folkloristische Polka-Tänze. Hat man sich für einen Tanz entschieden, wird man ohne weitere Einführung und mit der Forderung, sich auf das Kommende entspannt einzulassen, in das Innere des Anhängers geführt. Der Zugang zur Installation ist barrierefrei.

Mit dem Schließen der Tür öffnet sich ein von dem öffentlichen Treiben gänzlich abgeschirmter Raum. Bunte Lichter, die silberne Verkleidung des Bodens und der Wände sowie die stimmungsanregende Hintergrundmusik lassen bereits vor Beginn der Performance vergessen, dass man sich in einem Wohnwagenanhänger mitten auf dem Gutenbergplatz befindet. Verantwortlich für diese Verwandlung sind der Bühnenbildner Fivos Theodosakis und der Lichtdesigner David Schnaegelberger. Die Musik setzt ein und es tanzt jeweils eine*r der beiden Tänzer*innen Jungyun Bae oder Juan Urbina die zuvor ausgewählte Choreografie. Losgelöst von dem reizüberfluteten Alltag widerfährt der oder dem Zuschauenden ein Wahrnehmungserlebnis intensiver Ausstrahlung und Intimität. Nichts anderes als die Darbietung der Tänzer*innen fordert die Aufmerksamkeit der vereinzelten Zuschauenden, kein mitanwesendes Publikum, keine aufwendige Kulisse. In diesem Zeitraum von drei bis sieben Minuten stellt sich eine sehr persönliche Beziehung von Künstler*in und Besucher*in ein. Neben intensivem Augenkontakt werden weitere physisch erfahrbare Reaktionen ausgetauscht: Atmung, Mimik oder auch Gesten, die auf individuelle Gefühle und Empfindungen hindeuten.

Teilansicht einer Tanzpose. Der Ausschnitt zeigt den oder die Tänzer*in gänzlich in Weis gekleidet vom Knie bis zur Fußsohle.
Ein Tanz für einen Gast; Foto: Should-I-Know

Unter den Teilnehmenden lässt sich vor der Performance eine leichte Skepsis gegenüber der Installation sowie der Tatsache beobachten, dass die übliche Zuschauer*innenrolle hier verändert wird. Dennoch äußert sich die beschriebene Intensität der Darbietung – so wie ich vor Ort beobachten konnte – bei den Besucher*innen in Gestalt von Begeisterung und Faszination für diese Form der darstellenden Kunst. ,,KaleiDANCEscope” ermöglicht, was es verspricht: Ein geschärftes Selbstverständnis für die Wahrnehmung. Persönlich äußert sich diese Erfahrung darin, dass mir die Bedeutung des Phänomens „Moment“ erneut bewusst geworden ist. Das Ausblenden anderer Umweltreize durch den geschlossenen Raum des Anhängers wirkt wie ein Filter auf meine Sinne und ich kann meine Wahrnehmung vollkommen auf das Geschehen der Performance richten. Erst die Reduzierung und Privatisierung der auf mich einwirkenden Effekte ermöglicht es meiner Wahrnehmung, mich auf die intensive Begegnung einzulassen und meine Sehgewohnheit zu erweitern. Jenes Generieren von prägnanten Erfahrungswerten schafft ein Erlebnis, welches sich als besonderer Moment in meiner Erinnerung hervorheben wird.