Intimität, Beats und Smarties

Lucy Wilke und Paweł Duduś, Foto: Holger Rudolph

Am Samstagabend waren Schauspielerin Lucy Wilke und Tänzer Paweł Duduś mit ihrer einstündigen Produktion „Scores that shaped our friendship“ (dt., frei übersetzt „Partituren, die unsere Freundschaft prägten”) im U17 beim Grenzenlos Kultur-Festival zu sehen. Die beiden gewannen 2020 den Theaterpreis DER FAUST für die Produktion und wurden 2021 auch zum Berliner Theatertreffen eingeladen.

Die 21 Plätze waren im Vorfeld heißbegehrt. Glücklich über meine Karte und gespannt darauf, was mich an diesem Abend erwarten wird und bereit mich von dem Duo mitreißen zulassen, ging es 17 Meter unter die Erde. Im Aufführungsraum angekommen, suchte sich das Publikum Plätze auf den mit Kissen ausgelegten Plateaus.

Das Künstler:innen-Quartett vor Beginn

Lucy Wilke, Paweł Duduś, Kim Twiddle und eine Gebärdendolmetscherin waren bereits auf der Bühne und warfen interessierte Blicke in das ankommende Publikum. Sie hielten sich aneinander fest, was harmonisch wirkte. Die vier hatten sich auf einer weißen, samtenen Matratzenlandschaft niedergelassen, die von weißen Fellen umgeben war. Hinten rechts auf der Bühne stand ein Kleiderständer mit vielen bunten Kleiderstücken sowie ein auffälliges Paar schwarzer Schuhe mit neongelb-grünen Schnürsenkeln. Rechts neben der kleinen Garderobe stand ein schwarzer, elektrischer Rollstuhl.

Zu Beginn der Performance gab Kim Twiddle eine kurze Einführung, bevor sie sich dann selbst ans Mischpult stellte, um die Sounds für die Performance live zu produzieren und einzuspielen. Das Empfinden von Harmonie, Zugehörigkeit und Verbundenheit, die von den vier Kunstschaffenden ausging, hielt sich auch während Twiddles Ansprache.

Über Zugehörigkeit in sieben Kapiteln

Die Performance entfaltet sich in sieben Kapiteln, wie z.B. „my body“ (dt. „mein Körper“), „I recall“ (dt. „ich erinnere mich“) oder „the house over there“ (dt. „das Haus da drüben“). Mal steht die Bewegung der beiden im Fokus, wie Paweł Lucys Körper sanft und in verschiedenen Positionen über die Bühne bewegt wird, mal das Zusammenspiel der Blicke, zum Beispiel als Paweł im Badeanzug Lucy etwas vortanzt. Mit sichtbar überraschter Mine wird Lucy Wilke von manchen Zuschauer:innen angesehen, als sie anfängt, von ihren Erfahrungen mit Datings-Apps wie Tinder zu berichten. „You have a nice face, but…“ (dt. „du hast ein schönes Gesicht, aber…“), erinnert sie sich an eine wiederkehrende Äußerung von Flirtpartnern. In dem Augenblick nimmt Paweł Duduś einen Nylonstrumpf und zieht ihn Lucy Wilke über ihren Kopf, sodass ihr Gesicht bedeckt ist und malt mit blau, lila und rot ihre Augen und Lippen nach. Dann zieht er an dem Strumpf und verteilt damit die Farbe auf dem Strumpf und – wie später zu erkennen ist – ebenso auf ihrem Gesicht.

“Nice Face, but…”, Foto: Hoger Rudolph

Immer wieder kommt es zu Szenen, bei denen ich außerhalb des Kunst-Kontexts denken würde, dass Grenzen überschritten werden. Doch durch das gegenseitige Vertrauen, was von der vielfältigen Art der Kommunikation zwischen den beiden ausgeht, spüre ich, dass es beiden gut geht, mit dem was sie tun. Beide suchen selbstbestimmt die Nähe des anderen. Manchmal wirkt es sogar fast so, als ob Lucy und Paweł in- und miteinander verschmelzen würden, wenn sich ihre Körper aufeinander bewegen und aneinander schmiegen. Während einer anderen Szene fässt Paweł Lucy an ihren Beinen und lässt sie in Kreisen, kaum einen Meter von mir entfernt, schnell über den Boden gleiten. Dabei lacht Lucy. Das Gefühl von Unbeschwertheit verbreitet sich. Kurzzeitig stößt auch Kim Twiddle nochmal zu dem Duo hinzu. Sie verteilt Smarties über ihren Körpern und gibt auch den einen oder anderen direkt in ihre Münder. Dies erinnert mich an chemische Substanzen. Soll das an die Einnahme von Drogen erinnern? Der Abend wird die meiste Zeit von basslastiger, elektronischer Musik begleitet. Die Performance erinnert zwischendurch an eine Berliner Klubnacht und bewirkte, dass ich auch gern mal wieder zu einer langen Tanznacht gehen möchte. Mit Berliner Nachtleben assoziiere ich ist das Gefühl, dass dort jede:r so sein kann wie er oder sie sein möchte. Klubs als Parallelwelten gelebter Leichtigkeit ohne Dresscode, ohne Sperrstunde. Sich treiben lassen, dem Moment hingeben, träumen und sich dabei selbst treu bleiben. Auch darin steckt die Kraft, Intimität und Zugehörigkeit zu empfinden.

Mit- und beinander: Lucy Wilke und Paweł Duduś, Foto: Holger Rudolph

Durchgängig suchen die beiden durch Berührungen und Blicke Kontakt zueinander. Die Choreografie kreist um die Fragen: Was macht eine Freundschaft aus? Wo liegen die Grenzen? Liegen sie im Bereich physischer Nähe? Wann wird es zu körperlich und sexuell aufgeladen für eine Freundschaft? Was heißt es, für einander da zu sein? „Let us together take the boring norms aside“ (dt. Lass uns gemeinsam, die langweiligen Normen überwinden) – so Duduś zu Wilke, bevor er für sie tanzt. Im vermeintlichen Nicht-zur-Norm-Dazugehören gehören die beiden zusammen, gehören zueinander, beieinander.