Wahrnehmen als Offenheit zur Welt

Ob wir es wollen oder nicht, es ist schwer zu leugnen, dass wir soziale Wesen sind und fast jeden Tag mit anderen Menschen in Kontakt treten. Dazu gehört, dass wir uns einander beständig durch Blicke aussetzen: dass wir beobachten und selbst beobachtet werden. Und dass mit diesem Beobachten auch immer Bewertungen einhergehen. Beides gilt zugespitzt immer auch im Theater.

„The Way You Look (at me) Tonight“, eine choreografische Lecture-Performance der schottischen Künstlerin Claire Cunningham und des amerikanischen Choreografen und Performers Jess Curtis eröffnet das diesjährige Festival Grenzenlos Kultur Vol. 24. Die Performance ist eine Verschmelzung von Text und Bewegung, von Reflexionen und Choreografie. Auf der dreiteiligen Projektionsfläche tritt immer wieder auch Philosoph Alva Noë auf, mit dem die beiden Künstler:innen für die Produktion kooperiert haben.

Philosoph Alva Noë zu Gast auf den Screens in „The Way You Look (at me) Tonight“, Foto: Holger Rudolph

Das Publikum wird in die Bühnensituation einbezogen: traditionelle Sitzplätze wurden entfernt und in den vorderen Reihen durch bequeme Sofas ersetzt. Wahlweise kann das Publikum auch auf Stühlen oder Kissen auf der Bühne Platz nehmen. So wird auch Gästen im Rollstuhl die Möglichkeit gegeben, selbst auszusuchen, von wo aus sie den Abend mitverfolgen wollen. Bevor die Performance beginnt, begrüßen Claire Cunningham und Jess Curtis das Publikum herzlich, und erläutern ihre Angebote zur Barrierefreiheit und weisen darauf hin, dass sie während der Show – wenn gewollt – auch Körperkontakt mit dem Publikum aufnehmen werden. „The Way You Look (at me) Tonight“ möchte eine Relaxed Performance seinnicht nur für manche, sondern für alle Beteiligten.

Clarie Cunningham und Jess Curtis tauschen sich darüber aus, wie Mitmenschen sie auf der Straße immer wieder heimlich anstarren – sei es der Krücken wegen oder auch wegen weißem Haar –, und beim Zurückblicken schnell ihre Augen abwenden, um direkten Kontakt zu vermeiden. Danach laden sie das Publikum ein, sich an einer gemeinsamen Wahrnehmungsübung zu beteiligen, indem wir eine:n oder beide nur in einem peripheren Sichtfeld wahrnehmen sollen. Dabei handelt es sich um eine Übung zur Aufmerksamkeitslenkung, die auf einen Score des amerikanischen Künstlers Bill Shannon zurückgeht. Sie stellt dabei eine der vielen Einladungen an diesem Abend dar, körperlich zu neuen Erfahrungen und Wahrnehmungen angestiftet zu werden.

Jess Curtis und Claire Cunningham umgeben von auf der Bühne mitanwesenden Zuschauer*innen; Foto: Holger Rudolph

Clarie Cunningham bewegt sich mit ihren Krücken elegant und gelassen durch die nah platzierten Zuschauer:innen hindurch, führt Jess Curtis eine Reihe von Tricks vor – z.B. wie die Krücken zu einer Bank, einem Hocker oder einem Hochsitz werden können – und erläutert, wie die Höhe passend zur Körpergröße eingestellt wird. Außerdem beschreibt sie, dass sie zu ihr gehören, die beiden Krücken: „I am not a singularity anymore.“ Und dass sie über die Jahre herausgefunden habe, dass sie sich am wohlsten fühle, wenn sie von Menschen umgeben sei, die sich als queer identifizieren.

In der zweiten Hälfte des Abends gibt es eine lange Kontaktimprovisation der beiden zu schummrigem Licht, begleitet von einer aufgezeichneten Frauenstimme, die eine Text spricht, auf dessen Inhalt sich schwer konzentrieren lässt, bleibt man mit der fokussierten Wahrnehmung bei den beiden. Jess Curtis bewegt sich am Boden, während Clarie Cunningham ganz behutsam mit ihren Füßen mal auf seinem, mal auf den Körpern anderer Zuschauer:innen kurzen (Zwischen-)Halt sucht. Hier zeigt sich, was Alva Noë meint, wenn er davon spricht, dass Choreografie Philosophie sei. Wahrnehmen wird hier als Akt der Offenheit zur Welt praktiziert. Für urteilendes Sehen ist hier kein Platz. Denn, so Cunningham: „really perceiving is an act of love“. Blickt man zu Vorstellungsende in die Gesichter der anderen Gäste fühlt man: Es war ein Festivalauftakt voller Liebe.