Eine tragische Geschichte der Liebe

Als ich den Titel „Discover Love“ zum ersten Mal sah, dachte ich, dass es eine sehr warme Produktion sein würde, schließlich dachte ich, es gehe um Liebe und Liebe bringt immer auch glückliche Gefühle mit sich. Ich ging neugierig und ohne Vorabrecherche ins Theater, um mir das Gastspiel vom Belarus Free Theatre beim Festival Grenzenlos Kultur Vol. 24 anzusehen.

In den ersten 45 Minuten erzählt Irina, eine Frau, die noch die Sowjetunion miterlebt hat, dem Publikum von ihrer Kindheit, ihrer Beziehung zu ihrer Familie, ihrer ersten Liebe und wie sie sich in ihren Mann Anatoly verliebte, ihn heiratete und sie Kinder bekamen. Das Paar, das in jungen Jahren heiratete, erlebte ein gemeinsames Leben mit Höhen und Tiefen, mit Konflikten, gegenseitigem Unverständnis, Widerwillen, miteinander zu kommunizieren, und auch Vorfällen von Untreue. Aufgrund ihrer Liebe zueinander überwanden sie gemeinsam ihre Schwierigkeiten, klärten ihre Missverständnisse und wurden zu Seelenverwandten. Im Laufe der Zeit entwickeln sich die Karrieren des Paares allmählich und es ging ihnen finanziell besser. Gerade als ich dachte, dass dieses Paar glücklich bis an sein Lebensende leben würde, sagt Anatoly plötzlich: „Und dann wurde ich umgebracht“. Danach nimmt die insgesamt glückliche Stimmung der Geschichte eine Wendung zum Schlechteren. Anatoly beginnt einen Tanz: Er fällt wie vor Schmerzen zu Boden, kämpft darum aufzustehen, nur um wieder zu stürzen, als würde er von jemandem zu Boden gestoßen werden. In einer Nacht verschwindet Anatoly plötzlich für immer aus der Welt, zusammen mit einem Arbeitspartner.

Als die Welt noch in Ordnung war; Foto: Holger Rudolph

Lu Xun, ein moderner chinesischer Schriftsteller und einer der führenden Köpfe der chinesischen Neuen Kulturbewegung schrieb einmal, dass die Tragödie die Zerstörung der wertvollen Dinge im Leben sei. Für Irina war das Wichtigste ein glückliches Leben mit ihrem geliebten Mann an ihrer Seite. In dieser Nacht wurde das wertvolle Familienglück  zerstört. Sie hatte Albträume, in denen ihr Mann sie unter Tränen um Hilfe anflehte. Aber sie konnte nichts tun, um ihren Mann zu retten, denn sie wusste nicht einmal, wo er war. Anatoly ist vom KGB gewaltsam „verschwunden“ worden, entführt, gefoltert und umgebracht, weil er die belarusische Demokratiebewegung unterstützt hatte. Auf einer Leinwand an der Rückwand der Bühne beginnt eine Projektion. Diese zeigt Leichen, Fotos von Verschwundenen und Ermordeten und von Menschen, die auf der Straße demonstrieren. Während Irina erzählt, wird mir klar, dass dies nicht nur die Geschichte einer einzigen zerbrochenen Familie ist, sondern die Geschichte zahlloser zerbrochener Familien. Anatoly ist keine einzelne Figur, sondern eine verdichtete Charakterisierung der zahllosen Kämpfer, die wegen ihres Widerstands gegen Diktaturen und Machtpolitik mundtot gemacht worden sind. Irina repräsentiert die Angehörigen und Freunde dieser Krieger, die über das Verschwinden ihrer engsten Freunde trauern, wütend und fassungslos sind.

Aleh Sidorchyk und Kateryna Vostrikova on „Discover Love“; Foto: Holger Rudolph

„Discover Love“ basiert auf der wahren Geschichte von Irina Krasovskaya und ihrem Mann Anatoly. Aus ihrer Perspektive sieht das Publikum die Tragödie einer Frau, die die Liebe ihres Lebens für immer verliert, und aus gesellschaftlicher Sicht sehen wir die Tragödie vieler Menschen in vielen Regionen dieser Erde, die sich nach Demokratie und Freiheit sehnen und von einem diktatorischen Regime regiert werden. Die Theatergruppe Belarus Free Theatre wurde 2005 in Minsk gegründet. Heute haben alle Künstler*innen aus politischen Gründen ihr Land verlassen. Sie kämpfen mit ihrer Kunst für die Menschenrechte und die Demokratie. Leidenschaft, Wut und Traurigkeit steckt in ihrer Arbeit, die sie international präsentieren.

Die Fähigkeit zur Empathie ermöglicht es uns, uns in andere hineinzuversetzen, ihre Freude und ihren Kummer nachzuempfinden. Sie ermöglicht auch, in einer Aufführung wie „Discover Love“ eine so starke emotionale Erfahrung machen zu können. In dieser Nacht habe ich viel über die Liebe gelernt. Wenn Sie jemanden lieben, sollten Sie sich nicht an ihn*sie klammern, denn jeder Mensch ist für sich frei und gehört keinem anderen Menschen. Nur ein gemeinsamer Wunsch kann zwei Menschen zusammenbringen. Wenn Sie ein Land und die Menschen in diesem Land lieben, denken Sie auch daran, dass das Land nicht einem Einzelnen gehört und dass die Menschen nicht fest in der Hand gehalten werden sollten, sondern dass das Land nur dann in Harmonie funktionieren kann und die Menschen nur dann in Frieden und Glück leben können, wenn die Menschen ein gemeinsames Ziel verfolgen.