Angriff auf das Subjekt

Malte Scholz in “Woyzeck”. © Daniel Clarens

Schließen Sie nun Ihren Sicherheitsgurt und ziehen sie ihn fest. Haken Sie die Gurte wie vorgeführt ein. Zum Start stellen Sie bitte die Rückenlehne senkrecht und klappen Sie die Tische zurück. In ähnlicher Manier beginnt der Schauspieler Malte Scholz die Aufführung “Woyzeck” gestern beim Grenzenlos Kultur Festival. Und auch im Rest der Perfomance wird er den Zuschauer immer wieder wie ein Steward durch den Abend führen. Der Start ist sanft – aber die Landung?1836 begann Georg Büchner mit seiner Arbeit am Drama “Woyzeck“, das er in Anlehnung an ein etwa 50 Jahre zuvor geschehenes Verbrechen verfasste. Durch Büchners frühen Tod im Jahr darauf blieb das Werk unvollendet. Die verbliebenen Fragmente können in unterschiedlichster Reihenfolge gelesen werden. Woyzeck ist ein armer Mann, der von der Gesellschaft unterdrückt wird. Um Geld zu verdienen, lässt er an sich menschenunwürdige Experimente durchführen. In einem Anflug von wahnhafter Eifersucht tötet er seine Geliebte. Der reale Woyzeck wurde daraufhin zum Tode verurteilt – ein Urteil, das Jahre später noch angezweifelt wird. War Woyzeck zurechnungsfähig? Büchner rückt hier den Menschen als ein von der Gesellschaft unterdrücktes Wesen in den Vordergrund. So zweifelt er an der uneingeschränkten Freiheit des Menschen.

Und Boris Nikitin? Seine Inszenierung entstand 2007/2008 am Institut für Angewandte Theaterwissenschaft in Gießen als Teil des Projektes “Theater und Wissenschaft”. Im Mittelpunkt der Ausführungen des Schauspielers/Performers Malte Scholz steht dabei die Auseinandersetzung mit den Grenzen zwischen Dokumentation, Biographie und Fiktion, zwischen Kunst und Recht. Was ist geistiges Eigentum? Wem gehören meine Gedanken?

Nikitins “Woyzeck”-Inszenierung ist dabei weder Dramen-Umsetzung noch wissenschaftlicher Disput. Sie ist ein heftiges Schütteln, ein Schlag ins Gesicht. Scheinwerfer liegen verstreut auf dem Boden, eine Nebelmaschine sprotzt leise vor sich hin, Kabel und Mikrofone hängen von der Decke, Nebelschwaden gleiten durch die Luft. Der Theaterraum als Tonstudio: Alles, was sich darin abspielt, wird in einen Live-Stream eingespeist. Zuhörer vor den Computern können sich das Stück als experimentelles Live-Hörspiel anhören. Die Zuschauer im Theatersaal werden selbst zu einem Teil der Inszenierung. Jedes ihrer Geräusche wird aufgenommen und gespeichert.

Sehen wir hier Büchners “Woyzeck”? Nein! Aber wir sehen Büchner und wir sehen, wie Büchner interpretiert werden kann. Wie sein Werk hat auch diese Inszenierung keinen Anfang oder Ende. Der Abend beginnt mit Scholz’ unscheinbaren Grußworten. Doch während er redet, wird das Licht gedimmt. Er erzählt, wie das Werk entstand, was wirklich geschah, wie Büchner gearbeitet hat – und wie das Werk aus Sicht der Urheberrechtsdebatte diskutiert werden kann. “Was spricht da?” Philosophische Überlegungen zur Autorschaft führen direkt in pseudowissenschaftliche Abhandlungen. Vor uns steht aber noch immer Malte Scholz mit seinen privaten Gesten und seiner wie improvisiert wirkenden Sprache – im Scheinwerferlicht eines Theaterabends.

Wo hört Malte Scholz auf und wo fängt Woyzeck an? Wenn sich Scholz setzt, spricht er mit von Last und Schwermut belegten Stimme. Hat er sich jetzt in Woyzeck verwandelt? Er liest aus dem Bürgerlichen Gesetzbuch. Wann ist der Mensch ein Mensch? Mit der Geburt –  das sagt das Gesetz. Hat der Mensch auch eine Würde? Oder ist das ein Konstrukt der Gesellschaft – verankert in einem Gesetz? Paragaph xy?

Scholz bedankt sich für die Aufmerksamkeit, seine Stimme ist jetzt überlegen, leichter, heller – freier. Beim anschließenden Zuschauergespräch mit Nikitin und Scholz bleiben alle im Publikum, denn kaum einer weiß das eben Gesehene einzuordnen. Warum fragt Woyzeck, ob wir uns im Notfall eher für unsere Beine oder unsere Arme entscheiden würden? Allmählich schwillt ein Brummen bedrohlich an, Nikitin und der Moderator verschwinden, Woyzeck ist wieder da: Scholz lauscht im Kopfhörer wieder Stimmen. Diesmal sind es die der Zuschauer, die mit dem eben von ihnen Gesagten konfrontiert werden.

“Theater ist immer ein Angriff auf das Subjekt”, wiederholt Scholz jetzt Nikitins Worte. Da ist aus dem Ein-Personen-Stück längst ein Mehr-Personen-Stück mit teilnehmendem Publikum geworden: Die Zuschauer sind Teil der Inszenierung und der Wirklichkeit.

Wieder bedankt sich Woyzeck für die Aufmerksamkeit. Als Dank möchte er etwas von sich erzählen. Doch es ist Malte Scholz’ Biographie, leicht verfremdet. Wer oder was spricht da?

Mit ihrem Spiel aus Realität und Inszenierung, Sinn und Verwirrung, Freiheit und Konvention reihen sich Niktin und Scholz nahtlos in das Motto des Festivals ein: Gespenster der Freiheit. Oder Gespenster des eigenen Ichs. Auch wenn Scholz zum Abschluss allen einen schönen Abend wünscht, werden die meisten sich zu Hause wohl erstmal mit sich selbst beschäftigen. Die Frage nach der Freiheit des Willens lässt einen nicht los: “Wenn Sie wählen müssten, würden Sie lieber ihre Arme oder ihre Beine behalten?”

Lea Sophie Preußer

Lea Sophie Preußer, geboren 1990 in Wiesbaden, studiert Kulturanthropologie, Publizistik, Literaturwissenschaft und Philosophie an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Als freie Redakteurin schreibt sie für verschiedene Lokalzeitungen wie der Allgemeinen Zeitung Mainz und betreut ihren eigenen Flohmarktblog. Schon 2011 war sie Teil des Bloggerteams für das Grenzenlos Kultur Festival. Nebenbei arbeitet sie als Redaktionshilfe beim ZDF. Mehr unter www.marktwelten.de und auf Twitter @LeSophie.

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