Wer oder was ist AJIMA?

Maija Karhunen in AJIMA, Foto: Holger Rudolph

AJIMA – wer oder was ist das? Ist es die in Finnland geborene Performerin und Tänzerin Maija Karhunen oder eine fiktive Rolle, die sie in den rund 75 Minuten für das Publikum im Kleinen Haus des Staatstheaters Mainz einnimmt? Sicherlich ist es kein Zufall, dass die Buchstaben ihres Vornamens in veränderter Reihenfolge AJIMA ergeben. Denn wie ein Anagramm durch verschiedene Anordnungen der Buchstaben neue Bedeutungen und Gestalten annehmen kann, so zeigt die Künstlerin im Verlauf der Performance viele Facetten einer Persönlichkeit, die unterschiedlicher kaum sein könnten.

Mit ihrer Solo-Performance „AJIMA“, die bereits 2013 in den Uferstudios Berlin Premiere feierte und seitdem in verschiedenen Ländern, darunter Norwegen, Schottland oder Zypern, aufgeführt wurde, bildet Maija Karhunen den Auftakt des Theaterfestivals „Grenzenlos Kultur vol. 23“. Karhunen ist an „Osteogenesis imperfecta“, auch bekannt als „Glasknochenkrankheit“, erkrankt. Gemeinsam mit dem Produzenten und Choreografen Marc Philipp Gabriel erschafft sie eine bunte Mischung aus Musik- und Tanzeinlagen, Lichteffekten und Erzählungen. Eine Gebärdensprachdolmetscherin, die an einigen Stellen mit auf die Plattform tritt, übersetzt Gespräche oder Liedtexte simultan.

Identitäten, Projektionen und soziale Rollenzuschreibungen

Wer bin ich? Welche Rolle spiele ich in welchem Kontext? Und wie werde ich von meinen Mitmenschen wahrgenommen? Im sozialen Miteinander nehmen wir permanent bestimmte soziale Rollen(bilder) ein und projizieren bestimmte Eigenschaften aufeinander, die nicht selten auf Klischeevorstellungen und Stereotypen beruhen. Der amerikanische Soziologe Erving Goffman beschreibt in seinem Buch „Wir alle spielen Theater“ eben dieses Phänomen, wie sich jede Person im Laufe ihrer Sozialisation ein Set an Rollen aneignet, diese in Situationen abruft und so seine Identität in Interaktionen mit anderen durch das Abgleichen von Selbst- und Fremdwahrnehmungen hervorbringt. Was geschieht, wenn verschiedene Selbstbilder und Projektionen aufeinanderprallen, zeigt sich in AJIMA. Denn mit ihrer Performance hinterfragt Karhunen Zuschreibungsprozesse, indem sie sie wechselseitig vorführt.

Yoga-Tutorial, Disco und schrille Schreie

In Hufeisen-Anordnung werden die Zuschauer:innen auf der Bühne des Kleinen Hauses um ein zentrales Podest platziert, auf dem sich die Künstlerin bereits während des Einlasses in Sportkleidung auf einer Yoga-Matte befindet. Die ungewöhnliche Sitzanordnung erzeugt eine gewisse Nähe und durch die fehlende Distanz wird im Verlauf der Aufführung Blickkontakt und Interaktion zwischen Zuschauenden und der Künstlerin ermöglicht.

Beim minutenlangen gewissenhaften Ausführen von Dehnübungen aus einem Yoga-Tutorial, gewährt Maija Karhunen den Zuschauenden zunächst aus allen Perspektiven einen Blick auf ihren Körper. Mit wie viel Energie sie diesen tatsächlich zu bewegen weiß, zeigt die Künstlerin später als sie sich beim ausgelassenen Disco-Dance mit verschiedensten Posen über die Bühne bewegt. Eine ganz andere Facette zeigt die Performerin als sie dem Publikum von einem traumatischen Erlebnis am Flughafen berichtet und beginnt, immer schneller, aufgeregter und hysterischer zu sprechen und zu weinen bis sie sich schließlich in schrille Schreie hineinsteigert.

Maija Karhunen in AJIMA, Foto: Holger Rudolph

Vom Weihnachtslied über Beethoven bis zu Electro House

Aus einem Miniatur-Schrank, der wie eine Tür gestaltet ist, im hinteren Teil der Bühne steht und im Verlauf der Performance bewegt und auseinandergenommen wird, holt die Künstlerin wiederholt Kostümteile heraus, die sie sich überzieht, oder Requisiten, die sie über die Bühne verteilt. Als sie sich eine gold-glitzernde Jacke anzieht und Partymusik ertönt, scheinen wir uns mit viel Bühnennebel und einer bunten Licht- und Lasershow umgeben in einer Diskothek wiederzufinden. Dabei tanzt AJIMA über das ganze Podest, präsentiert sich mit fulminanten Posen in alle Richtungen und blickt Zuschauende immer wieder direkt an. Mit weiteren Kostüm-, Musik- und Lichtwechseln werden permanent neue Situationen erschaffen – mal ist sie ganz still, dann wieder laut, verhält sich theatralisch überzogen, fast hysterisch, dann wieder ganz bedacht und ruhig, wenn sie sich wie ein Kleinkind in ihre Yoga-Matte einwickelt und dem Publikum zuwinkt. In einem Moment ist klassische Opernmusik zu hören, im nächsten Moment erklingt Weihnachtsmusik. Ohne erkennbare Zusammenhänge wechselt die Musik zwischen einer Saxofon-Version von „Somewhere over the rainbow“, Rave-Musik, klassischen Orchesterstücken und Fahrstuhlmusik. Mit Geschwindigkeitswechseln, Geräuschen oder Momenten der Stille werden Stimmungen variiert und in Kombination mit bunten und dynamischen Lichteffekten oder Konfetti, das von der Decke herabfällt, entstehen unzählige Eindrücke, die AJIMA immer wieder – auch im wörtlichen Sinne – in neuem Licht erscheinen lassen. Für wiederholtes Schmunzeln oder laute Lacher sorgt Maija Karhunen unter anderem als sie versucht, immer wieder vom Thema abschweifend einen Witz zu erzählen, der nie wirklich zu seiner Pointe kommt.

„Let´s do an exercise together“

In den vielfältigen Szenen werden die Zuschauenden gelegentlich auch aktiv in die Performance einbezogen. So werden sie zum Beispiel in einer gemeinsamen Übung dazu aufgefordert, das eigene Gesicht zu ertasten, die Fingerspitzen wie Regen auf dem Körper zu spüren oder die Arme in die Luft zu strecken. Von der finnischen Künstlerin animiert, wird das Publikum zum Spielpartner, um Zuschreibungsprozesse mit- und aneinander auszuhandeln. Den Höhepunkt erreicht diese Interaktion als Karhunen am Ende der Performance beginnt, Gegenstände, die zuvor von einigen Zuschauenden eingesammelt wurden und von Feuerzeugen, Geldbörsen bis hin zu Notizblöcken reichen, zu begutachten. Karhunen analysiert dann die jeweiligen Besitzer:innen entlang ihrer Gegenstände und liefert Prophezeiungen, Lebensratschläge und Persönlichkeitsanalysen, nach denen eigentlich niemand gefragt hat und macht damit deutlich, wie (vor)schnell Projektionen und Zuschreibungen im sozialen Miteinander getätigt werden.

Maija Karhunen und ihr Publikum, Foto: David Wohlschlag

Die Performerin spielt, flirtet und spricht mit dem Publikum und scheint dieses im Verlauf der Performance immer mehr in ihren Bann zu ziehen. Mit starker Präsenz, Witz und auf sehr sympathische Weise entfalten sich die Facetten AJIMAS. Und obwohl die Frage nicht abschließend geklärt wird, wer AJIMA tatsächlich ist, fühlt man sich doch mit AJIMA verbunden und erlebt eine bunte, facettenreiche Reise durch ihre Welt. Beendet wird der Theaterabend schließlich mit Tee und Glückskeksen, um auch diejenigen Besucher:innen mit Prophezeiungen zu beglücken, die während der Aufführung keine persönliche Ding-Analyse durch AJIMA erhalten haben. Mit AJIMA geht nicht nur der erste Festivaltag, sondern auch ein sehr gelungener, witziger und unterhaltsamer Theaterabend zu Ende.