Wie konnte das passieren?

Jeder in Deutschland kennt die Namen Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe. Aber wem sind die Namen Şimşek, Kubaşık und Yozgat ein Begriff? Mit „Die NSU-Monologe“ klappt die Bühne für Menschenrechte eines der düstersten, oder in diesem Fall wohl eher braunsten Kapitel der deutschen Geschichte seit dem Zweiten Weltkrieg auf. Bei Grenzenlos Kultur in Mainz erzählt das Stück die Geschichten dreier Menschen, welche ihre Liebsten an die sinnlosen Morde eines neonazistischen Netzwerkes verloren.

Elisabeth Pleß, Susanne Maierhöfer, Hicran Demir © Holger Rudolf

Die NSU-Morde, von den Medien lange auch „Döner-Morde“ genannt, waren eine Reihe von neun Serienmorden in ganz Deutschland an Türkisch-stämmigen Einwohnern. Alle wurden durch den „Nationalsozialistischen Untergrund“ (NSU), der in erster Linie aus Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe bestand, von 2000 bis 2011 begangen. Dass hinter den Morden fremdenfeindliche Motive stecken könnten, auf diese Idee kamen nicht die Ermittler, sondern die Hinterbliebenen der Opfer. Zuvor wurden sie beschuldigt, die Morde an ihren Familienangehörigen selbst verübt zu haben. Sie wurden verdächtigt – Stunden, Tage, Wochen lang verhört, abgehört, ja selbst ihre Verwandten und Freunde. Alle, mit denen sie nach den Morden in Kontakt traten, wurden von der Polizei vernommen, auch in der Türkei. Vorwürfe des Diebstahls, Drogenhandels, Blutfehden und Verbindungen zur kurdischen Arbeiterpartei PKK machten die eigentlichen Opfer zu Tätern. Der Verfassungsschutz, die Polizei, die Regierung – alle waren sie, und sind zum Teil noch immer, auf dem rechten Auge blind.

Nicht von den Tätern, von den Opfern und ihren Geschichten erzählt die Bühne für Menschenrechte in „Die NSU-Monologe“. Dafür hat Regisseur Michael Ruf aus realen Interviews mit den Hinterbliebenen ein Stück Dokumentartheater gemacht. Jedes Wort ist echt, wurde nur zum Zweck der Dramaturgie angepasst. Auf der nahezu leeren Bühne von U17 erzählen vier Schauspieler die Geschichten von Adile Şimşek (Elisabeth Pleß), Elif Kubaşık (Susanne Maierhöfer) und Ismail Yozgat (Aydın Işık). Hicran Demir spricht dabei die Nebenrollen: Freunde, Familienangehörige, Polizisten. Dabei stehen sie vor Mikrofonen in einem schwarzen Bühnenraum, der den Fokus völlig auf die Akteure lenkt.

Aydın Işık, Eyk Kauly (Gebärdendolmetscher) © Holger Rudolph

Die Schauspieler verschmelzen von Beginn an mit ihren Rollen. Sie erzählen zunächst von ‚ihren‘ Leben und von Anekdoten mit ihren Liebsten, bevor sie nach Deutschland kamen, bevor sie Opfer wurden. Davon, wie Şimşek und Kubaşık ihre Männer Enver und Mehmet kennen lernten, ihre Familien in Friedberg (später Schlüchtern) und Dortmund eine neue Heimat fanden, wie Ismail Yozgat mit seinem Sohn Halit in Kassel ein Internetcafé eröffnet. Drei Familien, deren alltägliches Leben von den Morden völlig aus der Bahn geworfen wird. Sie erzählen, wie sie kurz nach den Morden an die Tatorte kamen. Wie niemand etwas gesehen haben will, sie auf anhieb als Täter beschimpft, ausgegrenzt wurden.

Lutz Spira begleitet den Abend mal hitziger, mal ruhiger mit Gitarrenklängen, verstärkt so die Spannung der einfühlsamen Monologe. Ganz im Sinne des Festivals wird der gesprochene Text sowohl simultan in Gebärdensprache übersetzt als auch Deutsch und Türkisch übertitelt.

Erst 2011, fünf Jahre nach dem letzten NSU-Mord an Halit Yozgat am 6. April 2006 wird die Mordserie als solche erkannt, weil sich Mundlos und Böhnhardt selbst töteten. In der Folge beginnt einer der längsten Gerichtsprozesse der deutschen Geschichte, der die Opfer mit zu vielen offenen Fragen zurücklässt. Ihr Bericht macht traurig, wütend, fassungslos. Als am Ende des Abends die Lichter verlöschen, klatscht lange niemand, stattdessen herrscht betretenes Schweigen. Am Ende stellt sich die Frage: Wie konnte das passieren?