Leichen pflastern ihren Weg

„Du fiese Bitch“ gellt es durch den Raum. Dann bricht Westernheldin Jolene Evans eine heftige Schießerei mit ihrer bösen Widersacherin Tatjana Thorns vom Zaun. Sie ballern, bis das Kunstblut spritzt. Nachdem sie offenbar getroffen wurde, schmiert sich Tatjana Thorns mit einer Sprüh-Ampulle – gut sichtbar für die Zuschauer – ihr Dekolleté rot an und verliert lasziv stöhnend ihren Todeskampf.

Westernheldinnen im Showdown: Dasniya Sommer, Solene Garnier © Simone Scardovelli

In Dennis Seidels Stück „Zehn Meter in den Wilden Westen“ kommt es immer wieder zu solch absurd ausgestellten Showdowns zwischen den Heldinnen. Auf der U17-Bühne des Mainzer Staatstheaters geht es an diesem Abend um Rache, Loyalität und Stereotypen: Tatjana Thorns hat schon die Eltern von Jolene Evans ermordet. Jetzt will Evans Rache. Aber die gibt es nicht zum Nulltarif.

Das feministische Western-Drama der etwas anderen Art handelt ausschließlich von weiblichen Charakteren. Auf der Bühne steht nur ein langer, weißer Laufsteg. Der dreht sich, von einem Elektro-Rollstuhl gezogen, während des Stücks immer wieder im Kreis und symbolisiert damit auch den Wiederholungscharakter der Handlung. Wenn sie mit ihren hautengen Western-Outfits aufgereiht auf dem Laufsteg stehen, wirken die Darsteller*innen wie klischeehafte Schaufensterpuppen.

Dennis Seidel, ein international bekannter Autor und Performer mit amtlich bescheinigter „geistiger Behinderung“, inszeniert die typischen Rollen des Western-Genres überspitzt und lässt die Extreme von Gut und Böse sisyphosartig gegeneinander kämpfen. So folgen der im blutigen Pistolenduell gefallenen Tatjana Thorns mehrmals neue Bösewichtinnen nach: die Schwestern von Thorns, jedes Mal gleich verführerisch lasziv gespielt von Solene Garnier.

Wie Schaufensterpuppen auf einem Laufsteg: Dennis Seidel, Noa Michalski, Fee Kürten, Dasniya Sommer, Melanie Lux © Simone Scardovelli

Auch auf der Seite der „Guten“ folgt den Verblichenen jedes Mal eine neue Generation von Heldinnen. Die Erbinnen der getöteten Jolene Evans spielt Dasniya Sommer im gleichen so coolen wie überguten Heldenhabitus. Natürlich haben sie ebenso klangvolle Namen wie ihre Vorgängerinnen, Michelle Blanche oder Janine Johnsson. Den Überblick zu behalten, wer gerade wie heißt und von wem umgebracht wurde, fällt schwer. Bei der Komik, die diese konfusen Handlungsstränge und überladenen Showeinlagen hervorrufen, ist das allerdings auch nur nebensächlich.

Ist dieser Reigen von Tod und Nachfolge schon reichlich unübersichtlich, so legt Dennis Seidel noch eins drauf: Jolenes treues Pferd, Blue Jeans (gespielt von Tom Reinecke), trinkt Whiskey und singt umgetextete Weihnachtslieder. Auch die Weggefährtinnen von Jolene und deren Nachfolgerinnen mischen sich in die Schießereien ein. Michaela Jackson, ihre Freundin, stirbt durch die Hand Tatjanas: „Ich hasse Popmusik!“ ruft die Böse – und Peng! Da liegt Michaela schon nach einem überdramatischen Todesschrei auf dem Boden. Auch das Pferd muss sterben – und steht wieder auf, nur um dann wieder erschossen zu werden. So wie jede*r in dieser Inszenierung.

Dennis Seidel selbst spielt Christina Johnsson, eine Journalistin, die gerade eine Geschichte über den Wilden Westen verfasst. Wenn Christina Johnsson um ihre verstorbenen Heldinnen trauert, legt sich über die Inszenierung ein Hauch von echter Tragik und Herzschmerz. Ihr Mitgefühl bringt etwas Ruhe und Sinn in das Chaos um Mord und Vergeltung. Aber dann geht es schon wieder los, mit trashigen Prügelszenen und Gangbang als Trockenübung. Die Grenzen von Fiktion und Realität verschwimmen endgültig, als Johnsson Teil der Handlung wird.

Leichen und Kunstblut aus der Pumpe, wohin das Auge blickt © Simone Scardovelli

Im Lauf der Aufführung gibt es zwei kleine Unterbrechungen, in denen Melanie Lux’ Sheriffin das Publikum anspricht. Sie will sich vergewissern, dass es auch keine Fragen mehr zur Handlung des Stücks gibt. Gibt es aber – und einige werden sogar beantwortet. Doch dann ist der Moment der Orientierung vorbei und jeder muss sich selbst einen Reim aus den rasant verwobenen (und verworrenen) Vorgängen auf der Bühne machen. Dabei schafft es das burleske Westernabenteuer, dem Durcheinander immer wieder urkomische Momente zu verleihen und die Zuschauer mit neuen Absurditäten zu überraschen.

Am Ende liegen alle Darsteller*innen erschossen auf dem Bühnenboden – außer Dennis Seidel, der lädt zum Nachgespräch ins Foyer ein. Dazu müssen die Zuschauer*innen vorbei an den von Kunstblut triefenden Darsteller*innen, die auch nach dem Schlussapplaus reglos auf dem Boden liegen bleiben. Das ist ganz offensichtlich kein Happy End – aber das braucht man auch gar nicht nach diesem ideenreich-blutigen Theaterabend. Außerdem verkündet Seidel: Fortsetzung folgt. Zum Glück!