Rimini Protokoll eröffnen mit “Chinchilla Arschloch, waswas” das Grenzlos Kultur Festival vol. 21
Was war das? Irritierend plopt, schnalzt, miaut es, während die Musikerin Barbara Morgenstern vorne auf der Bühne spricht oder am Mischpult und am Flügel live ihre Kompositionen spielt. Sie stammen von Benjamin Jürgens. Wenn er mitsingt, verstummen die Geräusche. Danach geht das Räuspern, Maunzen und Schnalzen von vorne los.
Jürgens hat, wie die beiden anderen Experten des Alltags Christian Hempel und Bijan Kaffenberger, das Tourette-Syndrom. Tourette ist eine Nervenkrankheit, die sich in Tics entlädt – unkontrollierte Geräusche und Bewegungen. Damit spielt und experimentiert die Inszenierung „Chinchilla Arschloch, waswas“ von Rimini Protokoll. Die Performance-Gruppe, die sich in Gießen gründete und längst weltweit tourt, ist nach „Qualitätskontrolle“ und „Black Tie“ zum dritten Mal bei Grenzenlos Kultur. In „Chinchilla Arschloch“ thematisiert Regisseurin Helgard Haug aber nicht nur das Leben mit Tourette, sondern befasst sich auch mit den Regeln des Theaters, mit dem Publikum und der Angst vor dem Kontrollverlust.
Während des Abends verbreitet sich eine entspannte Atmosphäre im Kleinen Haus des Mainzer Staatstheaters. Über den Abend verteilt werden die Regeln offengelegt, nach denen er funktioniert, die Bedingungen, unter denen die Performer*innen mitgemacht haben. Um allen Beteiligten Freiräume zu schaffen, dürfen nicht nur die Darsteller auf einer Couchlandschaft sitzen. Auch für die Zuschauer*innen dieser relaxed performance stehen Sessel, Divane und Couches bereit für alle, denen der enge Theatersitz zu viel wird. Wer auf oder vor der Bühne den Lautstärkepegel oder die blitzenden Lichter nicht aushält, darf sich zurückziehen und jederzeit wiederkommen.
Nicht nur reagieren die Performer*innen mit ihren Tics auf das Publikum. Auch die Zuschauer*innen werden getriggert, überfordert, greizt. Es ist wirklich viel los: Die Bühnentechniker bauen auf Jürgens’ Anweisung die Bühne um, alle Performer*innen zerdeppern Theaterglas, Arme und Beine zappeln. Gerade wenn Hempel, Jürgens und Kaffenberger zu dritt auf der Bühne sind und sich anscheinend gegenseitig hochschaukeln, die Tics sich zu verselbstständigen drohen, wird es laut und chaotisch, als würde der sonst genau getaktete Abend für einen kurzen Moment den Rhythmus verlieren. Einmal wird ein Audiomitschnitt der ersten Begegnung zwischen Hempel und Kaffenberger eingespielt, dazu sausen blitzen Sätze über die Bühne wie ein Wortsalatgewitter.
Während Jürgens pointiert und genau seinen Text vorträgt, hört man immer wieder Hempels Zwischenrufe: „Jaja, Arschloch!“ „Oder: „Nautische Nutte!“ Durch diese schnellen, intuitiven und ungefilterten Tic-Einwürfe entsteht eine unmittelbare Situationskomik, die wirklich witzig ist. Zugleich aber spiegelt der Abend auch uns, die lachenden Zuschauer*innen. Wer schaut wen wie an? Wer ist wann und warum ein Hingucker? Hempel bringt die Sache einmal auf den Punkt: „Dort draußen bin ich eine Störung und hier werde ich zur Attraktion.“
Auch wenn die Tics den – oft einstudierten, manchmal auch abgelesenen – Text immer wieder unterbrechen, fällt es leicht, dem Geschehen auf der Bühne zu folgen. Im sonst streng reglementierten, dunklen und stillen Theater wird hier auf erfrischende Art und Weise darauf aufmerksam gemacht, dass gerade durch diese Konventionen immer wieder Menschen von diesem Erlebnis ausgeschlossen werden. So holt der Abend Kontrollverlust aus der Tabu-Ecke und zeigt sein kreatives Potential.