Eine Argentinierin, ein Brite und jede Menge deutsche Politikverdrossenheit. Dazu ertönt Andreas Bourani im Hintergrund: „Wer friert uns diesen Moment ein“. WM-Feeling kommt allerdings nicht auf. Eine Darstellerin sitzt direkt vor dem Publikum, der andere hinten an einem Tisch. Sein rot geschminkter Mund formt deutsche Worte. Angestrengt und höchst konzentriert übt er Betonungen, unterbricht sich, fängt von vorne an. Seine Mitspielerin souffliert.
Hinter der Performance „Mund-Stück“ vom Briten Ant Hampton und der Argentinierin Rita Pauls steckt eine einzigartige Idee: Die beiden Freunde sind eine Woche lang per Anhalter durch Deutschland gereist und haben die Menschen, die sie getroffen haben, gefragt, was ihrer Meinung nach dringend mal gesagt werden müsste. Die Antworten nahmen sie auf und lernten sie auswendig, ohne sie zu verstehen. Beide sprechen nämlich kein Deutsch. Ihr Ziel: Die deutsche Kultur, mit der beide persönliche Berührungspunkte haben, in sich aufzunehmen und einen besonderen Zugang zu der deutschen Sprache zu finden.
Oben im Glashaus des Mainzer Staatstheaters reist das Publikum zusammen mit den beiden Performern durch einen Querschnitt von deutschen Ansichten und Wünschen. Bunte Neonröhren säumen auf beiden Seiten die Bühne und sorgen für unwirkliche Stimmung. In der hinteren rechten Ecke steht eine hohe Klappleiter, an deren Fuß ein Paar Wanderschuhe lehnt. Ein Relikt der Reise, auf die sich die beiden Darsteller begeben haben. Ansonsten gibt es auf der Bühne nicht viel, das von den Performern ablenken könnte.
Hampton und Pauls machen sich selbst zum Sprachrohr der Meinungen, die sie auf ihrem Weg durch Deutschland aufgenommen haben. Nicht nur die reine Menge an Text, die die beiden in einer fremden Sprache auswendig gelernt haben, ist hier beeindruckend. Besonders erstaunlich ist es, wie sie es schaffen, den Ton und Duktus der jeweiligen Person zu adaptieren. Sie kauen auf den Worten herum, schnattern, brüskieren sich, werden kleinlaut oder schweigen nachdenklich. Wie sehr sie sich dabei am Originalton der befragten Menschen orientieren, zeigen gelegentliche Einspieler der Originalaufnahmen. Im Tonfall sind sie kaum von dem der beiden Performer zu unterscheiden.
Schnelle Lichtwechsel zeigen an, dass ein Zitat vorbei ist und ein anderes beginnt. Die aufgenommenen Antworten der Menschen auf die Frage, was dringend mal gesagt werden müsse, variieren stark: Klimawandel, Osten, Westen, Digitalisierung. Mal sind sie belustigend, mal erschreckend. Sie reichen von Beschwerden über die vielen Baustellen in Deutschland bis hin zu rassistischen Aussagen und dem Wunsch nach einem politischen Führer. Das Lachen, das manche Kommentare auslösen, bleibt einem im nächsten Moment schon im Hals stecken.
Über weite Teile der Performance wirken Hampton und Pauls wie eine Einheit, ein einziges Medium. Doch die beiden Performer geben nicht nur wieder. Sie verfallen in einen rythmischen Sprechgesang, tänzeln herum, umkreisen einander oder gestikulieren synchron. Die Texte, die in Form einer Reihe von Zetteln vor den Zuschauern liegen, werden nicht nur vorgelesen, sondern auch mal zerissen oder als Taschentuch benutzt. Gleichzeitig reflektieren Pauls und Hampton ihren eigenen Arbeitsprozess, wenn sie sich gegenseitig soufflieren, einander verbessern oder zusammen schwer auszusprechende Passagen üben.
Die Sprache steht bei „Mund-Stück“ im Mittelpunkt. Schon gleich zu Beginn, als sich die beiden Darsteller*innen zuerst in ihrer jeweiligen Muttersprache (Spanisch und Englisch) an das Publikum richten, dann jedoch die Sprachen tauschen, hinterfragen sie Kategorien sprachlicher Identität. Deutsche Sätze aus den Mündern zweier Menschen zu hören, die sie gar nicht verstehen, lässt eine Distanz zur eigenen Sprache entstehen. Zwei Gebärdensprachdolmetscherinnen an der linken Seite der Bühne eröffnen eine zusätzliche sprachliche Ebene.
Auch wenn Hampton und Pauls immer wieder neue Wege finden, den von ihnen vorgetragenen Inhalt zu inszenieren, erschöpft sich das gleichbleibende Konzept der Performance gegen Ende. Die Grundidee des Projekts ist allerdings so originell, dass die 60-minütige Aufführung fast bis zum Schluss interessant bleibt. „Mund-Stück“ lässt einen Nachdenken über Chancen und Grenzen, sich mit Sprache zu verständigen und über das Verhältnis zum eigenen Land. Ein Theaterabend, der nicht besser zum Festivalthema „Heimat(en)“ passen könnte.