Das Theater Stap und die Performancegruppe Tibaldus en andere hoeren erzählen in “4:3” von Göttern, Mythen und dem Wunder Mensch
Auftritt Erzähler: Jetzt komme der Tod und das Mädchen. Eine junge Frau betritt mit Eimer die Bühne und reibt sich mit einem Waschlappen die Beine ab. Zwei Darsteller verfolgen ihre Bewegungen mit schwankenden Spotlights. Der Gott des Todes tritt auf und läutet mit einer sanften Berührung an ihrer Brust das Sterben des leuchtenden, unschuldigen Körpers ein. Langsam kommen andere Schauspieler mit weiteren Scheinwerfern dazu und tummeln sich um den toten, weißen Körper, der nun vollends beleuchtet ist und an die Hell-Dunkel-Kontraste in Barock-Gemälden erinnert.
“4:3” ist eine Kollaboration des inklusiven Theater Stap aus Gent und der Performancegruppe Tibaldus en andere hoeren. Ihr Symbol, die Pferdesilhuette, steht auf jener Wand, hinter der die Darsteller regelmäßig verschwinden und die neben den Scheinwerfern das einzige Bühnenelement ist. Der Abend handelt von der Frage nach dem Ursprung der Welt, von den Göttern und ihren Geschichten. Dabei wandelt sich “4:3” allmählich zum Lob des Menschen als wunderschöne Schöpfung.
Nicht nur inhaltlich, auch stilistisch geht das Theater dabei ein wenig zurück, zeigt sich in seiner ursprünglichen Form: Mit einfacher Bühne, Alltagskleidung, simplen Bildern und Showcharakter fasziniert die Produktion mit undramatischen Gesten und zurückhaltendem Charme.
Die vielen Arten des Glaubens
Was verführt den Menschen zum Glauben? Ein Prophet verkündet seine Erkenntnisse in einer mystischen, erfundenen Sprache. Die prägnanten Charakteristika der Gottheiten werden vom Erzähler auf knackige Weise nachgespielt. Ruhige Hände vergewissern sich auf der nackten Haut Jesu, ob es ihn auch wirklich gibt. Die Inszenierung funktioniert stark über bekannte Bilder, Gesten und Laute, sodass die flämische Sprache keine Barriere darstellt. Das kurze Gefühl des Verlusts über einige nicht übertitelte Sätze verschwindet spätestens dann wieder, wenn das Ensemble sich in die nächste Formation begibt und mit seinem Zusammenspiel verzaubert.
Die großartige Nancy Schellekens stellt mit Bärchen-Wollpulli und Gesundheitsschuhen den Muttergott dar. Sie spielt schon 27 Jahre in dem Ensemble. “Er ist wunderschön”, haucht sie und nähert sich mit langsam-bedächtigen Schritten dem Menschen, den sie in ihrer Schöpfung geschaffen hat. Sie ist es auch, die im lautstark angekündigten Epilog mit einem feinen und weisen “Jetzt ist es getan” ihre Schöpfung und das Stück beendet. In vielen Szenen sticht diese Zärtlichkeit heraus: Der Gott des Todes umarmt einen Darsteller und schaukelt ihn liebevoll mit Küssen ins Sterben. Selbst als der Teufel in Gestalt mehrerer Körper den Muttergott angreift, wehrt sich dieser in beruhigender Sanftheit und schafft es, die wilde Bestie durch bloße Streicheleinheiten zu zähmen. Die Behutsamkeit hinterlässt pure Bewunderung für die Schauspieler*innen auf der Bühne.
Verstehen, was wir verstehen wollen
Einmal berichtet Erzähler Jan Goris vom Verhör des Pontius Pilatus – und weicht dabei erheblich von der biblischen Überlieferung ab. “Das habe ich so nie gesagt”, echauffiert sich Jesus über Matthäus Levi, der ihm anscheinend protokollierend hinterherläuft. “Es wird vieles falsch verstanden”, resümiert Goris gegen Ende des Stücks. Der Abend bietet es mit seinen offenen Bildern besonders an, sich an seine eigenen Interpretationen des Bühnengeschehens zu halten. Es erscheint nicht wichtig, was der Prophet verkündet oder was Jesus genau gesagt hat. Sondern das, was der Mensch daraus macht. Denn Geschichten werden immer anders erzählt. Die Geschichten in „4:3“ unterhalten und beruhigen zugleich, als würden sie uns zuflüstern, dass wir uns in der Bewunderung der Schöpfung einig sein können, egal ob wir an einen, mehrere oder gar keine Götter glauben.