Das Berliner Obdachlosentheater Ratten 07 schockt mit einer wilden “Heidizeit”
Der Wind heult. Ein Mann in Karohemd und Leoparden-Jogginghosen betritt die Bühne. Mit seinem Strohhut auf dem Kopf ähnelt sein Aussehen dem einer Vogelscheuche. Die beiden Hunde, die er an der Leine führt, nehmen Platz auf einem Teppich und der Hundeführer drapiert riesige Müllsäcke auf der Bühne. Der Cellist legt eine melancholische Melodie auf das Pfeifen des Windes.
In “Heidizeit” erzählt das Berliner Obdachlosentheater Ratten 07 die berühmte Geschichte von Heidi frei nach Johanna Spyri. Sie zeigen, wie wohl sich Heidi beim Großvater fühlt, der vom weißhaarigen, bärtigen Heinz verkörpert wird. Und wie traurig sie ist, als Tante Dete sie nach Frankfurt holt.
Die Ratten 07 erzählen ihre eigene Version der Geschichte. Immer wieder betritt ein Mann im Parker die Bühne, um brechtisch die Szenen anzusagen. “Beim Großvater eins. Wuptikawuptika!” heißt es da, oder: “Ein Mensch muss essen, was im Sack ist. Wuptikawuptika!”
Die Szenen in den Bergen, die hier durch riesige Haufen aus Müllsäcken gestaltet werden, wechseln sich ab mit denen in Frankfurt. Hier ist eine besonders textsicheres und kraftvolles Fräulein Rottenmeier zuhause, gespielt von Bea – auf dem Programmzettel der Ratten werden alle Schauspieler mit ihrem Vornamen aufgelistet.
Vor allem die Darstellung der Clara irritiert. Sie sitzt im Rollstuhl und wird von Peter gespielt. Er trägt eine rosa Lackkorsage, dazu blaue Strumpfhosen, Rock und durchsichtige Gummistiefel. Der Schauspieler erinnert an einen in die Jahre gekommenen Rocker. Energiegeladen schreit er seinen Missmut immer wieder hinaus: “Anarchie!” Doch so wild und überzeugend er in den einen Szenen auftritt, so unsicher gerät er in anderen Szenen ins Schlittern. Texthänger sind an diesem Abend keine Ausnahme. Es ist das erste Mal, dass Ratten 07 mit “Heidizeit” auftreten. Da geht noch mehr.
Punks und Karl Marx
Zwei Trashrock-Szenen spannen den Bogen zur punkigen Obdachlosentruppe: Heidi und die Berge treten in den Hintergrund, Fräulein Rottenmeier verwandelt sich in eine wütende Rockröhre. Sie schimpft in ihrem Songtext über Heidi, die nun eine Irokesenperücke trägt und wie wild mit Clara und Dr. Sesemann um Fräulein Rottenmeier springt. Heidi sei zu schmuddelig gekleidet, kenne keine Begriffe und habe kein Benehmen – eine Szene, die stark an den Song “Junge” von den Ärzten erinnert.
Die Bezüge zwischen der heimatlosen Heidi und einem Leben auf der Straße werden zunehmend klarer, wenn sich die Pole Freiheit und Heimat herauskristallisieren. “Heimat ist eine Arbeit, die ich leisten muss”, stellen die Figuren einmal fest. Oder: “Heimat, was ist das eigentlich?” Auch Heidi scheint auf diese Frage zunächst keine Antwort zu wissen. Sie beginnt sich beim Großvater wohlzufühlen, dessen Denken auf Karl Marx’ dialektischem Materialismus fußt. Doch als Heidi nach Frankfurt geholt wird, kann sie, genau wie im Original, nicht glücklich sein. In einer deftigen Diskussion mit Clara schreit sie es hinaus: “Du hättest doch mein Zuhause sein können!”
Das ist zum Teil gut gedacht, scheitert aber an der Umsetzung, die sich immer wieder im Chaos verheddert. Schade, dass dieser eher mittelmäßige Theaterabend gleichzeitig der Abschlussabend des Grenzenlos Kultur ist. Nach den vielen großartigen Aufführungen der vergangenen Wochen bleibt so ein etwas schaler Nachgeschmack.