“Wie viel ist mein Leben Wert?“

Oder: „Für wie viel Euro würden Sie diese Maus töten?“ So lautet die Frage im anschließenden Publikumsgespräch, in dem die Gäste aufgefordert wurden, eine Zahl auf ein Kärtchen mit der Abbildung einer Maus aufzuschreiben. Die Antworten verteilten sich auf einer breiten Skala von Ablehnung bis zu hohen gebotenen Summen. Ich erkenne die Parallelität zur moralischen Frage der zugehörigen Inszenierung: Wie viel ist das Leben eines Mannes wert, der eine Frau geschwängert, verlassen und durch Meineid ins Elend gestoßen hat? Bei dem Mann handelt es sich um Alfred Ill (in niederländischer Übersetzung: Schill), bei der Frau um Claire Zachanassian und gespielt wird das Stück „My Black Panther“ auf der Grundlage von Dürrenmatts „Der Besuch der alten Dame“ aus dem Jahr 1956. Die belgischen Gruppen Theater Stap und Theater FroeFroe kooperierten zum dritten Mal und bringen den Klassiker beim Festival Grenzenlos Kultur Vol. 25 gemeinsam mit den beiden Musiker*innen Sinay Bavurhe und Stan Martens auf die Bühne.

Ort der Handlung ist die ehemals florierende Kleinstadt Güllen, die Claire Zachanassian vor vielen Jahren verlassen musste. Jetzt kehrt sie als Multimilliardärin zurück, um Rache zu nehmen. Unterdessen ging die Stadt bankrott und die letzte Hoffnung der Güllener*innen ist die alte Dame, die tatsächlich bereit wäre, der Stadt fünf Milliarden zu ‚schenken‘. Zachanassians einzige Bedingung ist, dass jemand ihren damaligen Geliebten Alfred Ill tötet. Die Versuchung des Geldes ist zu groß, die Armut zu bitter, die Güllener*innen zu schwach – so willigen sie ein. Natürlich, so bekräftigen sie, der „Gerechtigkeit“ wegen, nicht wegen des Geldes.

Eine feierlich gekleidete Dame-Puppe mit offenen Armen, hinter ihr zwei Schauspieler*innen, die die menschengroße Puppe gemeinsam bewegen. Rechts steht ein Mann in gestreifter Hose und Hemd (Schill)..
Claire Zachanassian, die alte Dame auf Besuch; Foto: Holger Rudolph

Theater FroeFroe greift zu seinen selbstgefertigten Puppen und damit zu einem Mittel, das ästhetisch eine Einheit der Güllener*innen erzeugt. Die Puppen stellen mit ihren ähnlichen, grotesken Gesichtern die Güllener*innen als eine kollektiv denkende und handelnde Gemeinschaft dar. Je höher der Rang in der Gesellschaft, desto größer die Puppe; die alte Dame übertrifft aber alle, vor allem, wenn sie am Ende der Aufführung als drei bis vier Meter hohe Figur erscheint. Eine gedoppelte Miniaturversion der Figuren kündigt auf einer zweiten Ebene im Bühnenhintergrund den Auftritt der Charaktere auf der ‚richtigen‘ Bühne an. Seit der Bekanntgabe ihres Angebots hat Claire die Bewohner*innen quasi als ‚Puppen in ihrer Hand‘, könnte man deuten. Im Gegensatz zu den anderen Güllener*innen wird Ill von dem FroeFroe-Schauspieler Dries De Win verkörpert. Als würde er seine Schuld von Anfang an akzeptieren, trägt er die gestreifte Kleidung eines Gefängnisinsassen.

9 verschiedene Puppen mit Gewehren in der Hand versammeln sich. Hinter den Puppen stehen Schauspieler*innen in schwarzer Kleidung, die die Puppen bewegen. Ein Mann versteckt sich unter dem Tisch (Schill). Im Hintergrund eine Miniaturstadt.
Die Güllener*innen bewaffnen sich; unter der Bank, auf dem Boden, ist Alfred Ill/Schill (Dries De Win); Foto: Holger Rudolph

Claires Haustier, ein Panther, dessen Puppe metaphorisch auch als Ill gedeutet werden kann, entläuft und bietet den Güllener*innen die perfekte Gelegenheit, sich zu bewaffnen. Als ein drohendes Kollektiv spielen sie bis zur letzten Minute mit Ills Nerven, bis sie ihn wirklich totschießen. Wer es genau getan hat, erfährt man nicht. Es handelt sich um einen Kollektivmord, es war nicht nur eine Person. Aber welche Schuld tragen die Güllener*innen? Die des Mordes oder die der Schwäche, dem Geld nicht widerstanden zu haben? Und ist vielleicht die eigentliche Mörderin Claire Zachanassian selbst, die die Güllener*innen als Puppen manipuliert hat, um Rache zu nehmen und die als selbsternannte Richterin über das Schicksal des Mannes urteilt, der ihr Leben zur Hölle gemacht hat? Eines ist sicher: die Güllener*innen erhalten ihre Bezahlung und jubeln, als es anfängt, Geldscheine zu regnen.

Mit der einzigartigen Inszenierungsweise, Figurentheater, Musik und Schauspiel zu verbinden, ist es den Theatern Stap und FroeFroe gelungen, Dürrenmatts zeitlose Tragikomödie mit ihrem für mich sehr merkwürdigen Humor so auf die Bühne zu bringen, dass deutlich wird, dass die Zerrissenheit zwischen Moral und Geldgier vielleicht gar nicht so weit entfernt von unserer Gesellschaft ist.