Es ist angerichtet: “Der kaukasische Kreidekreis” von Bertolt Brecht in einer Fassung von Helgard Haug (Rimini Protokoll) und Theater HORA. Die Schauspieler*innen sind auf der Bühne, die Kreidekreise aufgemalt und die Putzroboter schon dabei sie zu entfernen. Dann betritt Markus Müller, Intendant des Staatstheater Mainz, die Bühne des kleinen Hauses, um das Publikum zu begrüßen. Schnell wird klar: bei der heutigen Deutschland Premiere – uraufgeführt würde das Stück bei den Salzburger Festspielen im August 2023 – handelt es sich um eine spezielle Premiere. Der Grund: Tiziana Pagliaro, die eigentlich die Fürstin hätte verkörpern sollen, ist krank und hat die Reise von Zürich nach Mainz erst gar nicht angetreten.
Not macht erfinderisch und die Schauspieler*innen und Verantwortlichen hinter der Bühne zeigen ihre Kreativität und Anpassungsfähigkeit angesichts der unvorhergesehenen Umstände. Kurzerhand springt Magdalena Neuhaus, ihres Zeichens eigentlich Theatervermittlerin, ein und übernimmt auf einem pinken Hocker am rechten Bühnenrand sitzend das Einlesen von Pagliaros Textpassagen. Weiter wird Pagliaros Ausfall durch Remo Beuggert (Bühnenname Pitch) aufgefangen. Er spielt nicht nur die Rolle des Richters und führt in dieser Funktion das Publikum durch den Abend, sondern zeigt und erzählt dem Publikum, wie Pagliaro ihre Rolle interpretiert hätte, wenn sie auf der Bühne gestanden hätte.
Der Kern der Handlung vom “kaukasischen Kreidekreis” findet sich bereits in der Bibel im ersten Buch der Könige des Alten Testaments: König Salomon entscheidet den Streit zweier Frauen um ein Kind, indem er droht, das Kind zu teilen und jeder Frau die Hälfte zu geben. Diejenige Frau, die das Kind lieber der anderen Frau als dem Schwert überlässt, müsse die richtige Mutter sein.
Brecht hat in seinem kaukasischen Kreidekreis die Geschichte sozialkritisch umgedichtet. Bei ihm ist die Mutter des Kindes die hartherzige Frau des Gouverneurs, die im Krieg zwar ihre Kleider in Sicherheit bringt, ihr Kind aber liegen lässt. Die Magd Grusche rettet das Kind, das als Erbe getötet werden soll, vor den Verfolgern. Sie erduldet des Kindes wegen Schreckliches, opfert für das Kind sogar ihren Verlobten und heiratet einen ungeliebten Wüterich. Nach dem Krieg will die Frau des Gouverneurs ihr Kind zurück, da sie nur über das Kind an das Erbe gelangen kann. Die Magd Grusche, die das Kind aufgezogen hat, will es aber nicht mehr hergeben. Die Probe des Kreidekreises zeigt, dass die Pflegemutter die richtige Mutter, die leibliche dagegen die falsche Mutter ist. Mutterschaft wird bei Brecht sozial und nicht biologisch bestimmt.
Dass es sich bei dieser “Kreidekreis”-Inszenierung um eine aus dem Kosmos des Regiekollektivs Rimini Protokoll handelt, zeigt sich direkt zu Beginn der Inszenierung, als die Schauspielenden sich selbst und ihre Rollen dem Publikum vorstellen. Auch im Laufe der Aufführung nochmal, wenn die Schauspieler*innen von der Bühne gehen, um im Publikum Bücher zu verteilen. Die Schauspielenden (Remo Beuggert als Richter, Robin Gilly als Kind Michel, Simone Gisler als Magd Grusche, Simon Stuber als Soldat und Minhye Ko als Sänger und Live-Musikerin) können als Darsteller*innen ihrer selbst gelesen werden, sprechen sie sich doch im Laufe des Abends gegenseitig immer wieder mit Ihren echten Namen an. Ein weiteres Indiz dafür ist, dass die Lebensgeschichten und -realitäten der Darstellenden mit in die Fragen, die der Abend aufwirft, einfließen.
Durch die Zusammenarbeit von Haug mit dem schweizerischen Theaterkollektiv Theater HORA, bestehend aus Schauspieler*innen mit Downsyndrom sowie mit kognitiven Behinderungen oder Lernschwierigkeiten, werden zusätzliche Fragen aufgeworfen, wie: Wer kommt überhaupt als Mutter in Frage? Warum lässt man das Kind nicht entscheiden? Und wer darf überhaupt Mutter sein? So erscheint es auch passend, wenn sich am Ende der Inszenierung die Darsteller*innen an das Publikum wenden und fragen, ob Grusche das Kind wohl auch in ihre Obhut genommen hätte, wenn es nicht “kerngesund” gewesen wäre. Hätte sie dann die ganzen Strapazen auf sich genommen? Am Ende steht man mit mehr Fragen da als vorher.
Beuggert leitet das Publikum durch den Abend und hat mit Abstand am meisten Text, wobei er auch viele Passagen der anderen Schauspieler*innen wiederholt, wodurch die weiteren Darsteller*innen auf der Bühne gelegentlich zur Randnotiz geraten. Positiv anzumerken ist hier, dass er es versteht, humorvoll den widrigen Umständen der Aufführung zu trotzen und den Inhalt erzählerisch zu vermitteln. Die Inszenierung lebt vom Erzählen und die Schauspieler*innen vollführen dabei einen Drahtseilakt zwischen Hochdeutsch und Schweizerdeutsch und werden von Kopfhörern, durch die ihnen der Text eingesprochen wird, und Projektionen von Textpassagen – Brechts episches Theater lässt grüßen – unterstützt.
Durch das Verwenden von selbstgemachten Büchern in einer der insgesamt acht Proben wird im Stile Brechts auf diskriminierende Strukturen in der ableistischen Mehrheitsgesellschaft aufmerksam gemacht. Brecht selbst bleibt auch nicht verschont: die Inszenierung zeigt, dass in den meisten kanonisierten Werken des Theaters – zu denen Brechts Stücke zählen – meist davon ausgegangen wird, dass ein in einem Stück vorkommendes Kind auch ein ‚gesundes‘ Kind ist.
Mit ihrer Inszenierung tragen Theater HORA und Helgard Haug neue und interessante Fragen zum Thema Mutterschaft an Brechts kanonisiertes Werk ran. Die körperliche Präsenz der Schauspieler*innen ist eine Form des Widerstands gegen die Rufe nach Anpassung und Unterdrückung von Menschen mit Behinderung durch die ableistische Mehrheitsgesellschaft