Tanzend über Tanz nachdenken

Ein Lichtkegel erhellt ein allein stehendes Mikrofon in der Mitte der dunklen Bühne. Natalija Vladisavljević tritt hinzu und eröffnet die Performance mit einer kurzen Ansprache: „Es gibt zeitgenössischen Tanz ohne Musik, und es gibt zeitgenössischen Tanz ohne Tanz.“ Was ist überhaupt zeitgenössischer Tanz? Natalija Vladisavljevićs Inszenierung „Dance in the 21st Century“ im Rahmen von Grenzenlos Kultur Vol. 24 ist selbst eine mögliche Antwort: eine Collage aus Partituren, in der nicht nur getanzt, sondern auch über Tanz gesprochen, erzählt und reflektiert wird.

Der Tanz des Jahrhunderts

Die Autorin, Tänzerin und Choreografin Natalija Vladisavljević, die seit fast zwanzig Jahren mit dem serbischen Theater- und Tanzkollektiv Per.Art zusammenarbeitet, beschäftigt sich also mit der Frage, was zeitgenössischer Tanz im 21. Jahrhundert sein könnte. „Wir leben im 21. Jahrhundert, und genau dann werden wir unsere Aufführung haben“, erklärt sie. Einerseits verortet sie den Tanz im Jetzt und betont damit seine Zeitgenossenschaft. Der choreografische Einsatz von technischen Geräten wie Smartphones, ist dabei, trotz seiner Plakativität, nicht die einzige Markierung der Gegenwart. Andererseits öffnet die Rede vom Jahrhundert die Dimension von Tanzgeschichte(n) weit über das Jetzt der Aufführung hinaus.

Das Ensemble von „Dance in the 21st Century“ mit Smartphones vor den Augen; Foto: Marija Erdelj

Für die Arbeit kollaboriert Natalija Vladisavljević mit Alexandre Achour, Saša Asentić und Olivera Kovačević Crnjanski. Sie alle befinden sich auch als Tänzer*innen auf der Bühne. Die Ideen für die Zusammensetzung der Partituren, der Bühne und der Kostüme stammen von ihr. Das minimalistische Bühnenbild kombiniert einen Flügel mit verschiedenen Lichtröhren, die zusammen mit Lichtkegeln und Nebel in manchen Partituren eingesetzt werden. Vladisavljević selbst sitzt, wenn sie nicht auf der Bühne ist, am vorderen linken Bühnenrand und nimmt damit eine Position zwischen Performer*innen und Publikum ein – sie ist Beobachterin, Erzählerin, Tänzerin und Bezugsperson. Denn wie auch in anderen Performances arbeitet sie mit Tanz- und Musikimprovisation. Zu den Anweisungen, die sie als Impulse gibt, arbeiten alle Tänzer*innen choreografisch mit und weiter, reagieren und achten aufeinander.

Wer, Wann und Ob

Eine Frau tanzt alleine in einem dunklen Wald – ist sie ein Geist, ein schwebender Vogel? Manche Partituren gestalten sich als kleine Geschichten, die mit Worten erzählt und von Tänzer*innen performt werden. Teilweise werden narrative Aspekte in Tanz übersetzt, manchmal beleben die Tänzer*innen die Geschichten einfach mit ihren Körpern und Bewegungen. Die Verbindung aus Text und bewegten Körpern skizziert immer wieder Figuren: eine unsichtbare Frau, personifizierte Geister, ein eingesperrter Mann. Obgleich der Rätselhaftigkeit dieser Narrative, wird die Realität des Tanzes in den Situationen hinterfragt. Welche räumlichen und zeitlichen Grenzen hat der Tanz? Gibt es Verbote im Tanz? Kann er Gefahren trotzen?

Neben Tanz-Soli oder -Duetten kommt in der Collage ein diverses Spektrum an Partituren und Performances zur Aufführung. Wiederholt eine Tänzerin stetig, ein Tanz ergebe Sinn, wenn sich der Körper bewege, endet dies nicht in der Tautologie. Die Bestätigung des Selbst über den eigenen Körper und seine Bewegungen wird zum thematischen und formalen Motiv der fragmentarisch angedeuteten Geschichten, in denen Menschen sich verlieren oder im Dunkeln festsitzen. Tanz ist persönlich, besteht aus Erinnerungen und kann helfen, sich selbst wieder zu finden. Diese Individualität setzt sich formal in der wechselvollen Vielfalt aus Musik oder Nicht-Musik, Bewegungen, Lip-Syncs und Monologen fort. Gleichzeitig entfalten Tanzpassagen in der Gruppe Dynamiken des Reagierens, Ausweichens und arbeiten mit der Energie der Gemeinschaft. Ergänzt wird die Collage von Reflektionen wie einem Dialog über Tanzen im Dunkeln, die immer wieder Fragen nach der choreografischen Arbeit stellen. Mögliche Antworten dazu, was der Tanz braucht – Licht, Kostüm, Fläche, Finsternis und Mitarbeit – werden auf der Bühne ganz konkret ausprobiert. Natalija Vladisavljević beendet die Aufführung mit einer kurzen Sequenz, in der sie selbst einen Auszug aus der kanonischen Schwanensee-Choreografie tanzt.

Eine Frage der Haltung

In der Synergie zwischen Musik, Bewegung und Geschichten sind die Grenzen zwischen Improvisation und Choreografie in der Wahrnehmung fließend. Die für eine Improvisation notwendige Teamarbeit zeigt sich aber poetisch wie praktisch – im Suchen von Blickkontakt ebenso wie im Ausweichen, im Agieren wie im Reagieren. Die Souveränität der einzelnen Tänzer*innen zeigt sich dabei auch in der Individualität, die zu den persönlichen Tanz-Geschichten und Figuren-Skizzen passt, die in der Aufführung vorkommen.

Gruppenkörper, gemeinsam im Tanz und doch individuell; Foto: Marija Erdelj

Natalija Vladisavljevićs Präsenz durch die gesamte Aufführung hindurch macht ihre Haltung gegenüber den Tänzer*innen und ihrer choreografischen Arbeit auch für das Publikum sichtbar. Und diese Art der Kollaboration und Team-Arbeit, die auch aktiv auf der Bühne transparent gemacht wird, lässt sich ebenfalls als Statement zur Zukunft des zeitgenössischen Tanzes auffassen. Durch die Diversität der Körper und Stile, die Vielfalt der Geschichten, aber auch das Gemeinschaftspotential von Choreografie entsteht eine konzeptuelle Performance mit Tanz, ohne Tanz und über Tanz.

 

Leonard Kaiser war Teil des Blogger*innen-Teams 2021 und ist für die diesjährige Ausgabe in die Rolle des Gastautors geschlüpft.