21.20 Uhr. Kakadu Bar des Staatstheaters Mainz. Das Publikum versammelt sich um die kleinen runden Tische der Spielstätte. Auf den Tischen sammeln sich bereits Bier- und Weingläser. Auf der Bühne stehen Instrumente. Mittig an der Rückwand eine Leinwand. Der Raum ist halbdunkel. Die Bühne zieren Scheinwerfer, deren grünes Licht die Vorhänge an der Rückwand beleuchtet. Die warmweißen LED-Spots aus der Decke bilden einen gemütlichen Kontrast. 21.30 Uhr. Die Gespräche werden leiser und ein Warten auf den Vorstellungsbeginn macht sich bemerkbar. 21.40 Uhr. Die Band betritt den Raum und positioniert sich auf der Bühne an den Instrumenten – Cajetan Ebel und Daniel Timm an der Gitarre, Viola Hackbarth am Bass, Gül Pridat am Keyboard und schließlich Sängerin Tamara Keitel.
Camera Obscura heißt die Band und gehört dem inklusiven Künstler*innen-Netzwerk barner16 aus Hamburg an. Sie spielen eigens komponierte Filmmusik zum sowjet-ukrainischen Stummfilm „Der Mann mit der Kamera“ aus dem Jahr 1929 von Regisseur Dziga Vertov. Der Dokumentarfilm zählt zu den bedeutendsten experimentellen Stummfilmen aller Zeiten. Sein hohes Ansehen verdankt er den zahlreichen Techniken, die Vertov innerhalb des 68-minütigen Films erstmals anwendet oder bedeutend weiterentwickelt, wie beispielsweise die Kamerafahrt, Split Screen, Zeitlupe und Zeitraffer sowie die Stop-Motion-Animation. Inhaltlich dreht sich der Film um die Abbildung des alltäglichen Lebens in den sowjetischen Städten Odessa, Charkow und Kiew. Damalige Kritikpunkte: Fast Cutting, Metafiktion und wenig Inhalt zugunsten der Form.
In Kombination mit der Vertonung der Band, lässt der Film an diesem Abend nichts vermissen. Die Musik verleiht ihm eine weitere Dimension. Zwar passiert inhaltlich nicht viel mehr als die objektive Abbildung der Geschehnisse, doch die Klänge, Melodien und Motive der Musik bereichern das Bildmaterial und machen neue Gedankenräume auf, welche ohne sie womöglich nicht entstehen würden. Die Band interpretiert die Ereignisse des Films auf ihre Weise und drückt diese in der Komposition aus. Die Musik folgt einem eigenen Stil, welcher sich im Verlauf des Films nicht verändert. Es ist eine Mischung aus atmosphärischen Klängen und elektronischen Sounds. Die Rhythmen, die diese unterlegen sowie die Dynamik der Musik erzählen die Welt im Film akustisch nach.
Ein Kameramann liegt mit seiner Kamera auf Bahngleisen. Auf ihn rollt mit hoher Geschwindigkeit eine Eisenbahn zu. Der Rhythmus einer fahrenden Dampflok unterlegt die atmosphärische Soundkulisse. Passanten überqueren in Massen die Straßen einer Großstadt. Straßenbahnen, Busse und Autos summieren sich zu einem typischen Großstadttreiben. Ein sehr schneller Rhythmus der Musik unterstützt das Gefühl von Hektik. Plötzlich ändert sich die Stimmung. Ein Mann schläft auf einer Parkbank. Die Musik passt sich der im Film angewandten Zeitlupe an. Unaufgeregte Melodien des Keyboards bringen nach dem zuvor wahrgenommenen Chaos eine angenehme Ruhe mit sich. Der fast stressauslösende Sog von immer schneller werdenden Bildwechseln mündet in eine Phase der Entspannung, in der es leichter und vielleicht sogar angenehmer wird, dem Film zu folgen.
Die Dokumentation begibt sich nun runter von der Straße und rein in die Gebäude der Stadt. Menschen gehen ihren Berufen nach. Ob Bergbau oder Fabrikarbeit, Camera Obscura weiß die Klangkulisse der damaligen Welt wieder aufleben zu lassen. Ein Pferd, das unter Tage die Wägen zieht, findet sich im Rhythmus auftretender Hufe wieder. Der Rhythmus, in welchem ein Mann mit einer Spitzhacke Steine aus der Wand schlägt, findet sich akustisch in einem hohen Klopfen unter den Sounds der Gitarren. Das Klopfen folgt einer klaren Frequenz. Es geht über in ein mechanisches Klicken, welches nicht durch eine Änderung des Tones oder Instruments hervorgerufen wird, sondern anhand des filmischen Ortwechsels vom Bergbau in eine Fabrik. Der Klang untermalt die permanente Bewegung der Maschinen. Ein an klischeehafte Roboterstimmen erinnernder Sound kommentiert die Arbeit am Fließband und thematisiert eine Entmenschlichung der Arbeiter*innen zum Teil der Maschine.
Auch dem Leben an sich widmet der Film Aufmerksamkeit. Geburt, Hochzeit, Tod. Gebannt schaut das Publikum auf die Leinwand. Im Hintergrund klingt ein Ticken, wie eine Uhr, bloß schneller, parallel zum schnell abgebildeten Lauf des Lebens. Hobbys und Freizeitbeschäftigungen folgen. Fokus: Sport. Tamara Keitel, welche in der Musik stichwortartige Gesangseinlagen hat, atmet geräuschvoll im Takt in ihr Mikrofon. Durch die rhythmisierte Ausatmung und ihre in dem Moment schlaffe Körperhaltung, wirken Kugelstoßen, Hürdenlauf und Hochsprung anstrengend. Sie beginnt, Spannung aufzubauen in Körper und Atmung, was dem Sport im Film einen Leistungsgedanken gibt, unterstützt durch jubelnde Menschen und Ehrgeiz, welche der Film abbildet.
Die Musik und der Film bilden an diesem Abend eine bereichernde Symbiose. Das Leben nimmt trotz Höhen und Tiefen seinen Lauf, genau wie die Musik – auf Pausen folgen immer wieder neue Töne. Der einzelne Mensch ist einer von vielen – jeder Ton ein Beitrag zum Gesamtwerk. Die Töne der Band greifen ineinander wie die Leben der Menschen und sie bilden einen Soundteppich, einen Lebensteppich.