Wie ist es, in Dunkelheit zu leben? Wie malt man sich die Welt aus, wenn man sie nicht sieht? Anna Sophie Lübeck kann vielleicht nicht sehen, aber dennoch die Welt in all ihren Facetten wahrnehmen. In ihrer 80-minütigen Performance „Your eyes my sight“ nimmt die Schauspielerin des dänischen Glad Teaters die Zuschauer:innen mit auf eine Reise durch ihr Leben. Vier Autor:innen haben die Erfahrungen, Ängste und Wünsche der Künstlerin für die Bühne verdichtet. An verschiedenen Orten, die sich auf der Bühne zwischen aufgehängten Wäscheleinen eröffnen, erzählt Lübeck von prägnanten Ereignissen von der Kindheit bis zum Erwachsenenalter. Mit jeder Szene werden wir immer tiefer in ihr Leben eingeführt. Ihre Erzählungen und Gefühle scheinen jedoch für die Zuschauer:innen nicht ersichtlich miteinander verbunden – genauso wie die szenischen Räume durch die Wäscheleine.
Das Spiel mit Dunkelheit und Licht
Das Licht. Es sorgt dafür, dass wir alles sehen können. Doch was bleibt uns, wenn es dieses Licht nicht gibt? Die Dunkelheit. Viele fürchten sich vor ihr. Sie zeigt uns auf, wo unsere Grenzen liegen. Wie ein Leben im Dunkeln ohne Furcht aussieht, versucht uns die Darstellerin spielerisch zu vermitteln. Ihr Leben ist geprägt von Dunkelheit, doch sie weiß, wie sie sich selbst ein Bild von der Welt machen kann. Und so scheinen ihre Beschreibungen der Wirklichkeit manchmal detaillierter und facettenreicher als die eigenen.
In der Aufführung ist immer ein Licht ganz nah bei ihr und begleitet sie über die Bühne. Einigen Menschen macht nicht nur die Dunkelheit zu schaffen, sondern auch ein zu helles Licht. Damit wird in der Aufführung gespielt, wenn das Publikum wie die Darstellerin direkt ins Licht schaut, aber geblendet wird.
Die Welt durch THESE EYES „sehen“
Um in ihre Weltwahrnehmung eintauchen zu können, gibt es vor Aufführungsbeginn die Möglichkeit an einer Haptic Access Tour teilzunehmen, bei der man die Bühne mit all ihren Requisiten bereits vorher tastend kennenlernen kann. Die dunkle Bühne ist zum Zuschauerraum nur durch ein Seil auf dem Boden abgegrenzt. Auf ihr befinden sich verschiedene Requisiten, wie eine Schreibmaschine, ein Aufnahmegerät, Tische und Stühle, eine Schale mit Apfelmus und etwas zum Trinken, eine Leiter, eine Maske, ein Seidenmantel, eine Decke und ein Ballettschuh. Wir laufen das schwarze Band ab und ertasten die Objekte mit geschlossenen Augen. Dies verdeutlicht uns, wie schwierig es ist, sich nur auf seine anderen Sinne zu verlassen. Unsere Bewegungen werden stockend, die Orientierung fällt uns schwer, die Gegenstände wirken durch das bloße Erfühlen fremd.
Ein weiterer Versuch der Inszenierung, Einfühlung zu ermöglichen, stellt die Audiodeskription dar. Über Kopfhörer wird das Geschehen auf der Bühne genau beschrieben, damit blinde und sehbehinderte Menschen die Vorgänge besser wahrnehmen können. Wenn wir die Augen schließen, müssen wir uns ebenfalls auf unser Gehör verlassen. Wir hören die Stimme der Schauspielerin und die auditiven Beschreibungen.
Distanz statt Nähe
Die Versuche, dem Publikum einen Einblick in Anna Sophie Lübecks Leben und ihre Weltwahrnehmungen zu geben, kommen an ihre Grenzen, da sehende Zuschauer:innen stets die Möglichkeit behalten, auch zu schauen. Obwohl wir die Augen während einer kurzen interaktiven Übung am Ende für kurze Zeit schließen sollten, half das – zumindest uns – nicht, uns in ihre Erfahrungswelt einzufühlen. Die Zusammenhänge zwischen den verschiedenen erzählten Lebensstationen blieben teils unverständlich, schafften eher Distanz als Nähe. Distanz wurde auch dadurch erzeugt, dass die Rolle des „jungen Mannes im Wrack“, der sie gelegentlich führt, hält, trägt oder auffängt über die Dauer der Aufführung nicht ganz klar wurde. Wer ist der Mann auf der Bühne? Spielt er Lübeck oder eine der anderen Figuren aus ihren Berichten und Erinnerungen? Er selbst bleibt stumm, assistiert und dient so als multiple Projektionsfläche für ihre Geschichten.
Der Abend lässt viel Freiraum für Interpretationen und einige Fragen bleiben offen. Anna Sophie Lübeck begleitet uns in eine Dunkelheit und lässt uns dort fragend zurück. Sind wir es nicht – als sehende Personen in der Gesellschaft –, die im Alltag Barrieren aufbauen und sie stehen lassen? Auch wenn Anna Sophie Lübeck nicht sehen kann, scheint ihre Wahrnehmung der Welt breitgefächerter als die manch anderer. Wir haben vielleicht unsere Augen zum Sehen, doch sie zeigt uns ihren Blick auf die Welt und damit Facetten, die uns sonst verborgen bleiben.