Schrei es raus!

Jess Thom performt “Not I” © Holger Rudolph

Ein Gespräch via E-Mail von Jule Winkler und Anna S. Weber über Touretteshero Jess Thom und “Not I“ von Samuel Beckett

Anna: Nur zwölf Minuten dauerte die Aufführung von Samuel Becketts „Not I“ – und dann mit so einer geballten Ladung an Energie. Hast du das erwartet?

Jule: Ich habe nicht damit gerechnet, dass Jess Thom diesen wirklich komplizierten Text in zwölf Minuten packt und das mit so einer Power. Ihre Performance hat mich wirklich begeistert! Aber nicht nur die zwölf Minuten Beckett, auch der Film über die Entstehung der Performance danach und wie sie ihr Publikum mit einbezogen hat, als sie uns anstiftete, miteinander über das Erlebte zu reden. Was hältst du von der Atmosphäre des Abends?

Anna: Die Atmosphäre war unglaublich! Gerade als wir am Ende diese Übungen des Rausschreiens machten, hat man gemerkt, dass sich jeder wohl gefühlt hat. Auch die Möglichkeit, dass jeder aus dem Raum rausgehen konnte, wenn es nicht mehr ging und eingeladen wurde ganz natürlich zu sein, war toll. Es fühlte sich an, als ob der Raum zu einer Einheit verschmolzen ist.

Jule: Ich finde dieses Miteinanderschreien hat das Konzept eines typischen Theaterabends – sofern man die Performance überhaupt als solchen bezeichnen kann – noch stärker aufgebrochen. Ich habe aber auch ein paar verunsicherte Gesichter im Publikum gesehen. Das Schreien hat, glaube ich, nicht nur mich ziemliche Überwindung gekostet. Es war aber auf jeden Fall eine spannende Erfahrung, die ich so noch nicht gemacht habe. Auch das Bühnenbild und ihr Kostüm fand ich klasse, also dass sie da ganz in Schwarz saß, vom Hebepodest samt Rollstuhl hochgestemmt wurde und dort oben dann unter ihrer von innen beleuchteten Kapuze den Text sprach. Man sah den Mund, die Wangen, ein bisschen von der Nase, aber keine Augen. Und den Körper!

Nach Beckett, vor dem großen Schreien: Jess Thom und ihre Gebärdensprachdolmetscherin Julia Cramer © Holger Rudolph

Anna: Ich finde – in der Kombination mit der Erzählung, dass Jess als Zuschauerin schon mal gebeten wurde, wegen ihrer Ticks den Theatersaal zu verlassen – der Abend war rund. Die Übersetzung in Gebärdensprache hat mich fasziniert. Als ich Jess im Video mit Haaren gesehen habe, war ich erst mal verwirrt. Durch den schwarzen Anzug war das vor und nach dem Film ja nicht der Fall. Hattest du auch kurze Zeit Angst, dass sie von der Konstruktion fällt, die sie über den Boden gehoben hat? Ich fand es wackelte sehr.

Jule: Ich glaube, ich war zu gebannt von ihrem angestrahlten Mund. Diese LED-Kapuze war eine tolle Lösung. Ein bisschen Sorgen habe ich mir schon gemacht, aber nicht lange. Jess wirkt wie jemand, der genau weiß, was er tut. Überhaupt ist sie eine wahnsinnig eindrucksvolle Person.

Anna: Das ist sie auf jeden Fall. Unerwartet fand ich, dass die Aufführung die erste außerhalb Großbritanniens war. Weißt du noch wie lange es schon angeführt wird?

Jule: Nein leider nicht, aber nach dem zu urteilen, was wir gesehen haben, arbeiten sie schon seit mindestens 2016 daran. Es war auf jeden Fall das Beste, was ich je im Staatstheater gesehen habe. 😀

Anna: Da kann ich mich nur anschließen. 😉

Das entspannte Publikum im Gespräch © Holger Rudolph