Die spanische Compagnie Danza Mobile fragt “Where is down?” und antwortet mit rätselhaft schönen Bildern
Mit Jaques Offenbachs Höllencancan geht’s hinab: Wie in einem 80er-Jahre-Club wirbeln die grotesk gekleideten Darsteller in bunten Perücken und Glitzer-Sonnenbrillen teils eng umschlungen, teils für sich selbst über die ansonsten leere Bühne. Dazu erklingt klassische Musik, Ravels „Bolero“, Strauss’ „Zarathustra“ und Debussys „La fille aux cheveux de lin“, allerdings vom Synthesizer verfremdet. Im nächsten Moment sitzt José Manuel Muñoz auf einem Stuhl und hat ein Buch in der Hand. “Für mich ist Liebe Hass, denn ich bin allein”, liest er auf Spanisch vor, während die sechs anderen Tänzer im Hintergrund immer wieder eine Art Pyramide bilden und sie wieder auflösen.
Passend zum Dada-Motto des Festivals zeigt die spanische Tanztheatergruppe Danza Mobile mit “Where is down?” eine Choreografie, bei der man sich nicht nur fragt wo unten ist und was das überhaupt bedeuten soll. Sondern auch, wer eigentlich Mann und wer Frau ist, wer in dieser inklusiven Compagnie eine Behinderung hat und und wer nicht. Durch die verrückten Verkleidungen der Tänzer erkennt man das nämlich nicht auf den ersten Blick.
Die scheinbar zusammenhanglos aneinander gereihten Tanzszenen lassen einen zu Beginn der 60-minütigen Show erst mal ratlos dasitzen. Doch nach einer Weile wird man immer weiter in die Magie der verschiedenen Geschichten hinein gezogen, die sich zwischen den neonbunten Figuren auf der Bühne nur aus Licht und Nebel abspielen. Die Bewegungen der Tänzer sind mal abgehackt, mal dynamisch, immer im Einklang mit der stark verfremdeten Musik, die genauso oft ruhig wie auch aufbrausend klingen kann. In jeder Szene herrscht eine andere Stimmung, untermauert durch die unzähligen Lichtwechsel und -effekte. Die Tänzer bewegen sich miteinander, gegeneinander, nebeneinander, unabhängig voneinander. Gesten aus dem klassischen und neoklassischen Ballett wie Pirouetten und Hebefiguren prallen auf fließende Pina-Bausch-Bewegungen und Aerobic. Durch die Kostüme sind sowohl Gesicht als auch Geschlecht der Darsteller nicht zu erkennen. Diese Anonymität lässt viel Spielraum für Interpretationen. So mancher empfindet einen Moment vielleicht als märchenhafte Liebesszene, während jemand anderes sich an ein altes Jump ‘n’ Run-Spiel wie “Super Mario” erinnert fühlt.
Gegen Ende der Aufführung sitzen alle sieben Tänzer auf Stühlen in einer Reihe. Zum ersten Mal scheint Ordnung in das Chaos zu kommen. Langsam ziehen sie sich bis auf die Unterwäsche aus und nehmen ihre Perücken und Sonnenbrillen ab. Erst jetzt sieht man sie als individuelle Personen und nicht mehr als stilisierte Figuren. Nach und nach gehen sie ab, bis nur noch Jaime Garcia auf der Bühne sitzt, am äußeren Ende, sechs leere Stühle rechts von ihm. Er fängt an “Nessun Dorma” mitzusingen, die große Tenorarie aus Giacomo Puccinis „Turandot“. Sie allein reicht ja oft schon, um einem die Tränen in die Augen zu treiben. Er trifft die Töne nicht so ganz. Aber mit welcher Leidenschaft er sich in diese Liebes- und Siegesarie von unbeschreiblichem Pathos wirft, mit zärtlich großen Gesten, das macht diese Schlussszene zur emotionalsten des Abends.