Mit “When I die” entführt Thom Luz sein Publikum in einen Grenzbereich zwischen Dies- und Jenseits, Musik und Theater
Es dauert eine ganze Weile bis das Licht im Zuschauersaal vollkommen erlischt. An einem Klavier mit drei weißen Porzellantassen sitzt an der linken Bühnenseite eine Frau. Immer wieder berühren ihre Finger die Tasten, aber sie spielt nicht. Dann schiebt sie eine der drei Tassen langsam über den Rand, sie fällt und zerbricht in einem Pappkarton am Boden in Scherben. Einzelne Töne erklingen. Die Frau versucht, sie am Klavier nachzuspielen.
Die Frau ist Rosemary Brown, eine englische Haushälterin, die Stimmen verstorbener Komponisten hört, von Schubert und Rachmaninoff bis hin zu John Lennon. Sie diktieren ihr ungeschriebene Werke, Brown schreibt sie auf und überliefert sie der Nachwelt. Einfach ist das nicht: Während zunächst nur Liszt zu Besuch kommt, begleitet ihn irgendwann Schubert, Brahms korrigiert sie ständig und Beethoven schreit sie die ganze Zeit an.
Wie ein im Licht flatternder Falter
Es ist eine wahre Geschichte des 20. Jahrhunderts, die sich der Schweizer Regisseur Thom Luz hier für seinen ‚Gespenstermusikabend’ vorgenommen hat. Dennoch wirkt sie unwirklich. Seit der Premiere beim Spielart Festival in München 2013 tourt die Inszenierung „When I die“ erfolgreich durch die Welt. Die Beschäftigung mit der Frage nach der Vergänglichkeit von Musik und ihren Komponisten, die Frage „Was bleibt?“, fasziniert nicht nur den selbst als Musiker arbeitenden Theatermacher.
Der Musikabend-Teil ist definitiv gelungen. Neben den Tasteninstrumenten, für die Luz’ Inszenierungen bekannt sind, ist diesmal auch eine Glasharmonika dabei, die durch ihre schwingenden Töne die Gespenster musikalisch erscheinen lässt. Klarinette und Violine, eine tickende Standuhr auf Rädern und ein alter Fernseher, der zuweilen wie ein im Licht flatternder Falter schnarrt, bestimmen die Geräuschkulisse des Abends.
Gespür für Handwerk und magische Momente
Auf der Bühne finden sich neben den Instrumenten noch eine Vielzahl an Klavierhockern und ein beweglicher Scheinwerfer. Jack McNeill, Daniele Pintaudi, Samuel Streiff und Mathias Weibel sind zugleich Performer, singen und musizieren, kommen mal als Brahms mal als Liszt zu Besuch, dann wieder als Rosemarys Ehemann Charles Brown. Sie unterrichten das Publikum in der Handbewegungsabfolge für die gestische Darstellung einzelner Töne – eine fließende Choreografie der Hände zur gespielten Musik. Daniele Pintaudi erklärt, damit könne man sich Melodien besser merken. In der vor Vorstellungsbeginn gereichten Anleitung („A Manual“) sind zudem handschriftliche Anmerkungen zu lesen: Es diene zur Kommunikation einer Melodie über große Distanz – ob zeitlich oder räumlich spielt keine Rolle. Auf jeden Fall über die Distanz von Komponistengespenst zu Rosemary Brown.
Suly Röthlisberger als Rosemary Brown sucht weiter nach den richtigen Tönen und Tasten. Nach und nach ergeben sich Tonfolgen. Wenn ihr die vorgegebenen Melodien zu viel werden oder die Gespenster ein mehrstimmiges Lied anstimmen, fliegt eine Tasse. Dann herrscht für kurze Zeit Stille.
Zeitweise wirkt das Auftauchen einzelner Musiker tatsächlich gespenstisch: Im schummrigen Gegenlicht der Bühne erscheinen sie als schwarzer Umriss hinter den Instrumenten und sind im Bühnennebel kaum auszumachen. Luz Gespür für das Handwerk zeigt sich, wenn die Darsteller die Transportkisten auseinanderbauen, und mit dem darin verborgenen Spiegel und einem Scheinwerfer den Raum beleuchten und in Szene setzen. Hinter der zweiten Kiste erscheint eine Glastür. Nach guter Gespenstermanier wird angeklopft und dann doch durch die Wand gegangen.
Die Geschichte bleibt auf der Strecke
Das ist alles musikalisch rein und bildlich immer wieder stark, wie von Luz gewohnt. Der Abend besetzt ein gruselig-magisch-schönes Potenzial. Aber er scheint in diesem Raum, dem Kleinen Haus des Mainzer Staatstheaters, nicht gelingen zu wollen. Eine dichtere Zuschauermenge, näher am Geschehen, würde die Atmosphäre vielleicht herstellen, die anklingt und sich nie durchsetzt.
Auch, weil man zu wenig akustisch versteht. Die Performer sprechen auf Deutsch, Englisch und Französisch – ohne Übertitel. Während dadurch komödiantische Sequenzen entstehen, bleibt jedoch die Geschichte, die es hier zu erzählen gilt, an vielen Stellen auf der Strecke. Ohne die Programmheft-Anleitung wirkt vieles unverständlich, obwohl es den Darstellern und Röthlisberger keineswegs an Stimmgewalt fehlt. In den ohnehin wenigen Dialogen tritt eine absurde Komik zutage, die der Inszenierung des skurrilen und doch realen Themas ungemein zuträglich ist. Nur verliert sich das immer wieder im Raum. Und damit auch die Magie von „When I die“, die immer wieder aufscheint, aber nie von Dauer ist.