Dada als szenische Fantasie: Das Helmi zeigt zum Abschluss von Grenzenlos Kultur “Die letzte Lockerung”
Das muss man erst mal schaffen: Clara, die Großstadt-Freundin des Bergmädchens Heidi, hat „Burnout vom chillen“. Im Schweizer Sanatorium von Hofrat Behrens und seinen Kollegen sucht sie Heilung – durch essen, chillen und tanzen. Auch Joseph Beuys ist da, besteht aus Schaumstoff und schwarzen Plastikfetzen, die eine Lederjacke darstellen sollen, wartet lieber mal draußen beim Coyoten oder beschmiert die Zimmerecken mit Fett.
Chaos herrscht auf der Bühne im kleinen Haus des Mainzer Staatstheaters. Schließlich sorgt die Anarcho-Puppentruppe Das Helmi aus Berlin für den dadaistisch-krönenden Abschluss des Festivals Grenzenlos Kultur vol. 18. „Letzte Lockerung“ heißt ein dadaistisches Manifest, in dem Walter Serner 1918 gegen alle Sinnerhaltungsversuche protestierte. „Die letzte Lockerung“ der Helmis ist eben das als szenische Fantasie –ein intellektueller Nonsense-Abend.
Dadaistisch mutierte Kuranstalt
Die Helmis sind regelmäßige Gäste bei Grenzenlos Kultur. Felix und Florian Loycke, Brian Morrow und Emir Tebatebai wirken in ihren Projekten als Regisseure, Schauspieler, Texter und Musiker. Aus Schaumstoffresten, Stoff- und Plastikfetzen kreieren die Loycke-Brüder sonderbare Wesen mit bizarren Gesichtszügen. Mit ihren hervorstehenden Augen oder zu großen Nasen wirken sie lächerlich und absurd. Schön ist definitiv was anderes, aber das ist auch nicht Sinn und Zweck. Denn mit den Puppen lässt sich hervorragend provozieren und ironisieren. Gäste an diesem Abend sind Anne Tismer, früher berühmte Schauspielerin, heute Performancekünstlerin und die Performerin und Choreografin Dasniya Sommer.
In Anlehnung an Thomas Manns Roman „Der Zauberberg“ befinden wir uns in einer dadaistisch mutierten Kuranstalt, wo schräge Typen sinnlose Gespräche führen. Im Hintergrund hängt ein Gemälde mit verschneitem Gebirge. Die rechte Hälfte der Bühne ähnelt einer Punk-Konzertbühne mit Schlagzeug, E-Gitarre, Keyboard und bunten Lichtern. Hier toben sich die Schauspieler zwischen den konfus aneinandergereihten Szenen mit deutschem (Punk-)Rock musikalisch aus. Neben den Tischpodesten in der Mitte stapeln sich links alte Kartons, Schaumstoffreste und Müll, aus denen noch zig weitere Puppenwerke entstehen könnten.
Nur der Dadaist weiß, was Dada ist
Dass sich die Performer nicht all zu ernst nehmen, zeigt die Auswahl der Puppenfiguren und ihre ironische Darbietung. Schließlich werden auch die Kunst- und Literaturzitate nur angerissen, um sie herzhaft aufeinanderprallen zu lassen. Künstler wie Joseph Beuys, Salvador Dali und Ai Weiwei verwickeln einander in schräge Gespräche. Es ist zu komisch, wenn die Yoko-Ono-Schaumstoffpuppe über ihr Kuscheln-für-den-Weltfrieden-Bed-In mit John Lennon faselt. Oder der Abend so lange pausiert, bis Dasniya Sommer endlich von fünf Zuschauern angespuckt wurde. Ohnehin ist der Dada-Begriff dehnbar: “Nur der Dadaist weiß, was Dada ist”, heißt es einmal.
Auch das Unterhaltungsangebot der Klinik könnte absurder nicht sein. Mit dabei: Butoh – der Tanz der Seele oder ein Yoga-Kurs, unterrichtet von einem eingerosteten Yogi, dazu Nacktbaden. Am Ende kommt noch ein gemeinsames Gesichtereinschmieren mit Rasierschaum und Creme, Schokostreuseln und Popcorn dazu, das letzte Sinnstiftungsversuche der Insassen vertreiben soll.
Nackter Arsch im Gesicht der Bürgerlichkeit
Felix Loycke als drolliger Leiter der Anstalt mit dickem Fatsuit-Bauch und Anne Tismer als Clara Sesemann mit angeklebten Beinprothesen aus Schaumstoff spielen ihre Rollen berührend amüsant. Im Boot aus karierten Kunststofftaschen mit zusammengebastelten Rudern schippern sie über die Bühne und gestehen einander ihre Zuneigung. Ihre Gespräche sind aber immer irrsinnig sinnbefreit.
Das nonkonformistische Bestreben der Anarcho-Truppe spiegelt sich allerdings nicht nur in der kompletten Überladung an Themen wieder. Auch ihr Zeitmanagement ist flexibel und scheint zum Konzept zu gehören – am Ende dauert der Abend nicht die angekündigten 60, sondern 90 Minuten. Gegen Ende verliert er etwas an Fahrt. Aber auch das ist drin im Konzept. Schließlich war Dada der Sprung mit dem nackten Arsch ins Gesicht der Bürgerlichkeit. Und das kriegen die Helmis mit „Die letzte Lockerung“ locker hin.