Was Tschechows Schwestern verborgen blieb

Nele Winkler, Angela Winkler, Rita Seredßus und Juliana Götze (v.l.n.r.) als die drei Schwestern und Amme im Schiffscontainer.
Nele Winkler, Cora Frost, Rita Seredßus und Juliana Götze (v.l.n.r.) als die drei Schwestern und Amme im Schiffscontainer. © Holger Rudolph

Zum Abschluss von Grenzenlos Kultur verhandelt „Schwestern“ sehr frei nach Tschechow die großen Fragen des Lebens

„Das Leben macht Spaß, auch wenn es völlig daneben geht“, stellen die RambaZamba-Schauspielerinnen Juliana Götze, Rita Seredßus und Nele Winkler klar. Ihre drei Schwestern stehen kichernd an der Bühnenkante, im Hintergrund versucht ihr Bruder den Worten seines Liebesgeständnisses an seine zukünftige Frau Natascha Gehör zu verschaffen. Er steht in einem offenen Schiffscontainer, der mit geschlossener Front den Sehnsuchtsort “Москва”  (Moskau) aus Tschechows „Die drei Schwestern“ weiß auf rot verkündet.

Zum Ende des Festivals ist „Schwestern“ von Regisseur Frank Krug und Choreograf Davide Camplani im Kleinen Haus zu Gast. Mit durchaus starken Bildern: Zu Beginn öffnet sich der innen mit Neonröhren beleuchtete Container einen Spalt breit, Cora Frost als Amme in schwarzem Kleid stürzt heraus und bleibt zunächst regungslos am Boden liegen. Bald darauf tanzen die drei Schwestern in bunten Kleidern über die Bühne. „Glücklich“ ist Mascha, wie sie immer wieder sagt. Kurz darauf liegt sie wie tot aufgebahrt im offenen Container. Der zuvor noch getragene, weiße Rock verschleiert ihr Gesicht. Diese vier Figuren werden einzig um den kleinen Bruder Andrej ergänzt, der in der russischen Vorlage zunächst als Hoffnungsträger der drei gebildeten, in der Provinz festsitzenden Frauen fungiert.

Wenn der Kinderwagen kippelt

Bei Krug baut Andrej, gespielt von Nele Winklers Bruder Tammo Winkler, singend und von ihm selbst unbemerkt den Kinderwagen falsch zusammen, aus dem Publikum kommt ein einzelner, vermutlich ironischer Zwischenapplaus. Wenig hoffnungsvoll. Das Vergehen der Zeit macht sich wie bei Tschechow über den anstehenden, schließlich durch Säuglings-Schreien präsenten Nachwuchs bemerkbar. Irina, die jüngste der drei, ist mit dem Kind heillos überfordert und bringt ihn kurzerhand von der Bühne.

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Nele und Tammo Winkler – und der kippelnde Kinderwagen © Holger Rudolph

Vieles an diesem Abend gelingt. Vor allem die Musik von Ketan Bhatti und seinem Ensemble. Mal atmet das Saxofon schwer mit den Schauspielerinnen, wenn sie die Lebensmüdigkeit überfällt. Mal öffnet sich der Container unter lautem Knarren des Cellos. Hektische Perkussion und Jazz wechseln mit ruhiger Musik, die den Gesang der Amme begleitet. Die unterschiedliche Rhythmik der aufeinanderfolgenden Szenen bringt eine Dynamik mit sich, die das Musikensemble dezent zu dirigieren weiß.

Überflüssiges Wissen? Blablaba!

Doch die Dialoge funktionieren nur, solange sie die Sehnsucht der Tschechow’schen Schwestern transportieren. Wenn die Drei beim eigenen Leben bleiben, bei Gedanken wie: „Was ist, wenn wir nicht mehr da sind?“ Wenn die Schwestern diskutieren, ob sie von vorne anfangen oder weitermachen sollen. Das geht nicht nur melancholisch, sondern auch komisch: wenn sie das Leben für gleichbleibend, aber spaßig befinden. Ausgelassen über „Viel zu viel überflüssiges Wissen“ kichern und das Ganze mit „BlaBlaBla“ ironisieren.

Das sind gelegte Fährten, die allerdings immer wieder abreißen. Aufscheinende Momente, die verdimmen, weil sie nicht weitergesponnen werden. Auch, weil die zwei weiteren Figuren ihnen keinen Widerpart bieten. Tammo Winklers Andrej etwa bleibt äußerst blass. Möglicherweise würde es helfen, wenn die von den Schwestern verachtete Angebetete Andrejs bei dessen Liebesgeständnis anwesend wäre und der Amme eine weitere Funktion außer ihrem Singen zukäme. Oder wenn spannende Einfälle wie jene Geige, die je nach Bogen Worte statt Musik von sich gibt, motivisch eingesetzt statt nur kurz präsentiert würden.

Was Tschechows Schwestern verborgen blieb

Und möglicherweise wäre es gar nicht nötig, dass die Darstellerinnen ihr Down-Syndrom erwähnen, wie es hier kalauerhaft geschieht. Im Rahmen von Grenzenlos Kultur, dessen Ziel es sein muss, sich in einer zukünftigen Gesellschaft selbst abzuschaffen, ist es ein charmanter, repräsentativer Abend. Doch die Themen, mit denen sich die Figuren beschäftigen sind so zentral und universal zutreffend, das schauspielerische Potenzial und der Ideenreichtum hierbei wirklich groß genug, um einen stimmigen Abend zu kreieren, der besagte Erwähnung einfach mal außen vor lässt. Immerhin ist die Aussage des Abends, die den Tschechow-Schwestern verborgen blieb, spätestens bei der lärmenden Abschlussdisko klar: Das Leben macht Spaß, auch wenn es mal daneben geht.