Premiere am Staatstheater Mainz: Koen Augustijnen schickt in „Sehnsucht, limited edition“ sechs Tänzer*innen in die geschlossene U-Bahn-Station
Aufgereiht stehen die sechs Tänzer an der Bühnenrampe, außer Atem, und blicken in den Saal. Synchron streifen sie sich noch einmal geräuschvoll über ihre Trenchcoats und – black. Tosender Applaus und Jubelrufe.
Gestern Abend feierte das Mainzer Tanzensemble Premiere am Staatstheater. „Sehnsucht, limited edition“ heißt das Stück des Belgischen Choreografen Koen Augustijnen. In knapp eineinhalb Stunden setzt er sich darin mit der Vielschichtigkeit des Begriffs Sehnsucht auseinander, des Gefühls der unstillbaren Unzufriedenheit, aber auch des stetigen Bedürfnisses und Verlangens danach.
In der Klassiker-Falle
Sehnsucht – kein leichter Begriff. Das begreift auch der Zuschauer. Von einer Sequenz zur nächsten entwickelt sich dieses zentrale Wort des Abends in verschiedensten Stufen. Von Slapstick zu Aggression, von sexueller Gewalt zum Kinderwunsch. Ohne erkennbaren Zusammenhang reihen sich dabei teilweise bizarre Szenen aneinander: So tanzen die sechs Darsteller im einen Moment paarweise leidenschaftlich Tango, während sie sich im Nächsten bis zur äußersten Erschöpfung treiben, als sie aufgereiht in einer rhythmisch-aggressiven Formation ihre Trenchcoats laut auf den Boden schlagen und über ihren Köpfen wirbeln.
Einzig die Kulisse bleibt immer gleich. Vor den kahlen, weißen Fliesen im kalten Licht einer stilisierten U-Bahn-Station sieht man zu Beginn bekannte Gestalten: Wartende, Geschäftige, Betrunkene. Sie lehnen an der Wand, sitzen auf den harten Plastikstühlen oder laufen im Stechschritt durch den Raum. Auch ein Straßenmusiker sitzt in der rechten hinteren Ecke, der beständig Klassiker der Musikgeschichte mit seinem Akkordeon spielt.
Was passiert hier gerade?
Philippe Thuriot gilt dafür die höchste Anerkennung. Das einfallslos gewählte Repertoire aus Bachs Goldberg-Variationen, Astor Piazzola und Michael Jackson präsentiert der Akkordeonist virtuos und auf eindringliche Weise. Dabei lässt er die kalte, einsame Stimmung aufleben, wenn die Akkordeonklänge im Raum verhallen. Die sich im Laufe des Abends immer wieder wandelnden Gefühlslagen der Tänzerinnen und Tänzer unterlegt er mit der Aria und Sätzen der Goldberg-Variationen.
Doch als die Darsteller in ihren oft willkürlich wirkenden Bewegungsabläufen plötzlich vom Choreografen selbst unterbrochen werden, als dieser in Putzkraftklamotten mit dem Reinigungswagen über die Bühne fährt, möchte man ihn am liebsten fragen: Was passiert hier gerade?
Im Erschöpfungs-Rausch
Augustijnen versucht zwar, die zahlreichen Facetten der Sehnsucht mit den impulsiven Bewegungswechseln der Tänzer auszudrücken. Die meiste Zeit jedoch wirkt das wie aneinandergeklebtes Best-Of-Tanztheater mit Best-Of-Popmusik und Barock-Klassikern. Die Tänzer schlagen, schreien, befriedigen sich selbst. Verzweifelte Gestalten, gefangen im U-Bahn-Schacht. Der Zuschauer als vorbeifahrender Zug, der das Geschehen beobachtet? Endstation: Sehnsucht?
Der Choreograf treibt die Tänzer immer wieder an ihre äußersten Grenzen. Diese ‚echte’ Erschöpfung der um Atem ringenden Tänzer betont das Sehnen und zugleich die Sucht, respektive Rausch, auf eindrückliche Weise. Doch alles scheint sich im Kreis zu drehen. Auch diese Ekstase verpufft, als das Publikum mit dem albernen Grinsen der durch den U-Bahnhof tänzelnden Darsteller aus diesem Abend entlassen wird. Am Ende bleibt nur eine Verstörung: das bedrohlich hohe Fiepen des Akkordeons.