„Offenbar sind die Werke des Fleisches“, so heißt es im biblischen Galaterbrief. Darin wird der Sinnlichkeit abgesprochen, höhere Sinnhaftigkeit hervorzubringen. Die patriarchale Erweiterungsperspektive jener christlichen Weltanschauung setzt wiederum Sinnlichkeit mit Weiblichkeit synonym. Das Ergebnis dieser Gleichung: Die idealisierte Frau erregt, verführt und berauscht mit ihrem Fleisch, ohne sich dabei selbst zu entwerfen oder eigene Ansprüche hervorzubringen. Gegenstand ihrer Lust wäre dann nicht sie selbst, sondern als Objekt der Begierde schöpfe sie diese lediglich aus der Befriedigung anderer.
Die erschreckende Aktualität dieser zuweilen romantisch verklärten, im Grunde zutiefst sexistischen Konfession hat die Tänzerin Anna Dujardin gemeinsam mit der Choreografin Fanny Vandesande zu ihrem autofiktionalen Performancestück „TWOTFAM. The works of the flesh are manifest“ inspiriert, welches sie bei der diesjährigen Ausgabe von Grenzenlos Kultur Vol. 25 präsentieren. Beide verbindet neben der Zusammenarbeit mit der flämischen Platform-K, einer inklusiven Produktionsstätte für Tanzkunst, das Bestreben, den Themen Sexualität, Intimität und Zwischenmenschlichkeit in ihren Werken auf selbstbestimmte Weise Sichtbarkeit zu verschaffen. Die ironische Anspielung auf den Bibelvers im Titel der gemeinsamen Arbeit markiert dabei die kritische Lesart und kündigt gleichzeitig den Entwurf einer eigenen ‚Offenbarung‘ an.
„Meine Arbeit ist ihnen zu sinnlich, dabei ist sie abstrakt“
Bevor wir gemeinsam in die höchstpersönliche Abstraktion der Performance eintreten, stellt ihre Erzählstimme aus dem Off klar: Es ist ihr Abend, ihre Sinnlichkeit, ihre Lust. Die Tänzerin erlebt schließlich selbst häufig, wie ihren Werken die eigentliche Bedeutung abgesprochen wird. „Die Menschen sehen mich an, aber erkennen mich nicht.“ Jenen und allen darüber hinaus öffnet sie mit ihrer Performance, die in der Residenz, der neuen Interimsstätte des Staatstheaters Mainz gezeigt wird, einladend die Tür zu ihrem Innersten.
Bereits das angleichende Größenverhältnis der Spielfläche zu der bewusst überschaubar gehaltenen Zuschauer*innenzahl baut die konservative Machtkonzentration auf Seiten der im Dunkeln urteilenden Masse ab und lädt die Atmosphäre mit einer intensiven Intimität auf, an der jede*r schon durch die bloße Anwesenheit teilhat. Einfühlendes Teilhaben wird von der Relaxed Performance zudem durch alternative Sitz-und Liegemöglichkeiten sowie der Aufforderung zum bedürfnisorientierten Zuschauen gefördert.
Die von Dujardin und Vandesande eingerichtete Bühnenlandschaft beinhaltet wenige alltägliche Gegenstände, etwa ein Handtuch, eine Wärmflasche oder eine befüllte Wasserschale. Der Minimalismus spielt in anregender Weise mit dem Assoziationsvermögen, betont die Mannigfaltigkeit im Einfachen und trägt so zur Schöpfung fantasievoller Gedankenspiele bei, deren Widerhall im Bewusstsein jede sittliche Tabuisierung überstimmt. „Richte den Blick nach innen, hör dir zu“, fordert Dujardins Erzählstimme eindringlich von uns Anwesenden.
Steigender Ruhepuls und pulsierende Bässe
Dujardin strahlt mit ihrer Bühnenpäsenz eine zunächst ruhige und dennoch starke Aura aus, mit welcher sie sich andächtig und zugleich lustvoll-konzentriert den Gegenständen zuwendet. Langsam läßt sie Wasser über ihre Handgelenke träufeln, vergräbt beide Hände sich umeinander windend in der Wasserschale, streichelt ihre Arme und benetzt ihr Gesicht mit den feuchten Händen. Mit ähnlich hingebender und genießender Vorsicht entfaltet sie das Handtuch oder legt sich die Wärmflasche auf den Bauch. Die Intensität der jeweiligen Bewegungen wird von den live produzierten Keybord- und Kontrabasstönen des Musikers Kobe Boon unterstützt. Zusätzlich angereichert wird das getanzte Selbstporträt durch immer wieder eingespielte kurze poetische und lyrische Textflächen aus dem Off.
„Lust breitet sich aus, es tropft, riecht, schmilzt“, kommentiert die genussvoll stöhnend flüsternde Erzählstimme die leidenschaftlichen Umarmungen und Berührungen der Tänzerin, die sie an sich selbst vollzieht. Schneller und heftiger steigert sich Dujardin mit ihren vibrierenden Bewegungen zu dem aufdrehenden Technobass. Aus der Liegeposition erhebt sie sich in den Stand. Ihr Ausdruck glüht vor befreiter Selbstvergessenheit. Dennoch verfällt ihr körperlich-sinnliches Lustspiel nicht in eine bewusstlose Ekstase, vielmehr schickt sie alle Energie selbstbewusst in den Raum und füllt ihn damit auf.
Dujardins sinnlich-performative Identitätsarbeit mündet in der souveränen Aneignung von Situationen. Umstände, welche erstmal als gesetzt erscheinen, beherrscht sie, indem sie ihr situatives Selbst ausschließlich für sich entwirft. „Es geht nicht um dich“, betont die Erzählstimme, während spezifische Lusterfahrungen über die Gestalt eines Fabelwesens beschrieben werden. „Du kannst das Tier nicht führen. Nur, wer es erschaffen hat, kann das.“
Entwerfe dich Selbst
Das Thema der offenen Tür, welche aus der Lebensrealität der Tänzerin in einer katholischen Wohngemeinschaft hervorgeht, wo es einen Zwang zum Offenhalten von Türen gab, wird mit der formalen Analogie zur geöffneten „vierten Wand“ subvertiert und mit TWOTFAM zu einem Akt der Selbstermächtigung erhoben. Unsere Präsenz als kleine, zuschauende Öffentlichkeit hemmt Dujardins Ausdrucksweise nicht, schüchtert nicht ein, wird im Gegenteil choreografisch zu einer Haltung der Einladung gewendet. Als wären wir erwartete Gäste auf ihrem Tanzabend, der sich nach ihren Bedürfnissen gestaltet, wo sie ihr Selbst erfühlen kann, wie sie es will. Gegen Ende lässt Dujardin uns unsere eigene Teilhabe an ihrer Feier noch deutlicher spüren. Mit ausgestreckten Armen tritt sie an die Zuschauenden heran und lädt mit entgegenkommenden Gesten dazu ein, mit ihr physisch in Kontakt zu treten und ihre Energie zu teilen. Jede Berührung geschieht freiwillig und aus den individuellen Impulsen der Teilnehmenden heraus. Zwei Zuschauer*innen bauen dabei ein Vertrauensverhältnis auf und lassen sich von der Tänzerin auf die Tanzfläche geleiten, wo Dujardin die beiden mit derselben genießenden Vorsicht in eine liegende Position versetzt, wie sie es anfänglich mit sich und den Gegenständen getan hat.
Die Performance hebt den Stoff aus seinen tabuisierten Grenzen und verdeutlicht gleichsam, dass Sexualität und Sinnlichkeit sehr wohl Sinnhaftigkeit hervorbringen. Denn letztere ist Teil unserer verkörperten Welterfahrung, ist materialisierter Sinn in sich selbst entwerfenden Menschen jenseits von religiösen oder gesellschaftlichen Limitierungen. Neben der Betonung bedürfnisorientierter Selbstliebe ermutigt uns TWOTFAM offen für die Identitätsentwürfe anderer zu sein. Und was dabei auch helfen kann, so Dujardins Vorschlag: jede*r sollte seine Sitznachbar*innen im Theater öfter einfach mal wechseln. Auch so können sich neue Türen öffnen.