Ein Theater, das keine Zuspätkommenden kennt

Sandra Umathum (links, daneben Symposiums-Co-Kurator Benjamin Wihstutz) spricht über “crip time” und das Stadttheater © Holger Rudolph

Warum steht man eigentlich im Theater oft vor verschlossenen Türen, wenn man nur fünf Minuten zu spät ist? Sandra Umathum, Theaterwissenschaftlerin und Dramaturgin aus Berlin, findet die Probleme, die das zeitgenössische Theater hat, viel spannender, als all die Dinge, die immer glatt gehen. Mit ihrem Vortrag zum Thema Zeitlichkeit eröffnet sie am Samstag den zweiten Tag des Symposiums “Out of Time?”.

Umathum leitet mit dem Bericht eines eigenen Theaterbesuchs ins Thema ein: In Martin Clausens Inszenierung Möchten Sie noch? Nein danke! plaudern sich vier Schauspieler mit Behinderung durch eine abendliche Tischgesellschaft und brechen dabei mit sämtlichen Konventionen. Da jeder Performer sein eigenes Tempo, seine eigene Zeitlichkeit braucht, entsteht eine im Theater selten gesehene Asynchronität.

Daran anknüpfend definiert Umathum den Begriff der “crip time” nach Alison Kafer als eine sich den verschiedenen Bedürfnissen Einzelner anpassende Zeit.

Die Dramaturgin wirft einen durchaus skeptischen Blick auf die Stadttheater. Eine Auseinandersetzung mit crip time stehe dort nicht im Fokus. Wenn nicht ohnehin mit einem inklusiven Ensemble gearbeitet wird, wird sich überhaupt nicht mit ihr auseinandergesetzt. Das Theater befördere sich so selbst ins Unzeitgemäße.

Unpünktlichkeit im Theater gilt als tadelnswert, so Umathums Beobachtung. Hat man es nicht geschafft, zur festgesetzten Zeit am vereinbarten Ort seine Karte abreißen zu lassen, muss man mit verschlossenen Türen rechnen. Ein Nacheinlass ist nur in seltenen Fällen möglich. Wird man doch noch eingelassen, muss man sich den missbilligenden Blicken anderer Zuschauender ausgesetzt, durch viel zu enge Stuhlreihen drücken und darf seinen Platz – wenn man ihn dann endlich gefunden hat – erst wieder verlassen, wenn die Klingel es einem erlaubt.

Als Gegenentwurf zu diesem das Publikum in seiner Zeitlichkeit einschränkende Theater führt Umathum Bertolt Brechts episches Theater an. Brecht hat seinen Zuschauern dort die Möglichkeit offengelassen, gedanklich abzuschweifen, aber jederzeit wieder in die Inszenierung einzusteigen. Ihr Kompromiss: einige offene Türen während der Vorstellungen. Wer nicht auf den Gongschlag erscheint, wird so nicht vorgeführt. Umathum fordert eine Entdisziplinierung des Theaters.

Crip time, sagt Umathum, ist eine sich immer wieder selbst brechende Zeit. Regelhaftes zu durchbrechen aber bleibt ein Prozess, in dem gerade die Theaterwissenschaft mit gutem Beispiel vorangehen sollte. Ihr Wunsch: “Ein Theater, das keine Zuspätkommenden kennt.”