“Wir hoffen, die Bombe entschärfen zu können. Es ist unwahrscheinlich, aber wir versuchen heute Abend, Unwahrscheinliches zu möglich zu machen.”
Am Ende der Show öffnet sich plötzlich die Wand hinter dem Theatersaal. Die Theatertechniker*innen und -arbeiter*innen kommen auf die Bühne. Sie räumen die gesamte Theaterbühne und beseitigen sämtliche Requisiten, bis auf ein einziges blaues Sofa. Auf dem Sofa sitzt Leni, allein. Sie sieht sehr müde aus. Im Hintergrund läuft ein Lied von Udo Jürgens, darin heißt es: “Der Zirkus darf nicht sterben!” Abrupt wird der Song beendet und eine Stimme aus dem Off schaltet sich mit den Worten ein: “Machen wir den Zirkus leichter, damit wir das Geld leichter verdienen.”
Wir sitzen im Kleinen Haus im Staatstheater Mainz. “Wer immer hofft, stirbt singend” ist ein Gastspiel der Münchner Kammerspiele, inszeniert von Jan-Christoph Gockel. Er war von 2014 bis 2020 Hausregisseur in Mainz, heute ist Gockel Mitglied der Künstlerischen Leitung der Münchner Kammerspiele. Das Stück basiert auf dem Spielfilm „Die Artisten in der Zirkuskuppel: ratlos“ von Alexander Kluge.
Jan-Christoph Gockel tritt zu Beginn selbst auf die Bühne und kündigt das Stück wie ein Conférencier an. Er stelle ein paar Dinge auf der Bühne vor: einen alten Zirkuswagen beispielsweise. Und da wir alle wüssten, dass ein Zirkus Tiere braucht, einen kaputten großen Hai, aus der Theaterwerkstatt ausgeliehen mit dem Versprechen, ihn repariert zurückgeben: “Reparatur ist die Möglichkeit, die Dinge besser zu verstehen.” Vom Theater aus geht es auf eine Reise in die Zirkuswelt.
Wo Liebe ist, ist keine Veränderung
Es ist eine traurige Welt voller Ratlosigkeit, die Welt eines alten Zirkus. Der Zirkusdirektor und Artist Manfred Peickert, der etwas Neues im Zirkus machen wollte, stürzt vom Drahtseil. Dabei kommt er tragischerweise ums Leben. Wir sehen diese Szene am Anfang, gespielt von einer Puppe, denn wie so oft arbeitet Gockel hier mit dem Puppenbauer Michael Pietsch zusammen. Nach seinem Tod versucht seine Tochter Leni (Julia Gräfner) den Zirkus am Leben zu erhalten und beschließt, selbst eine Art Reform durchzusetzen: “Ich werde den Zirkus verändern, weil ich den Zirkus liebe.” Aber Liebe ist, wie es bei Alexander Kluge heißt, konservativ und nicht zu Veränderung imstande. Lenis Zirkus bleibt abstrakt.
Doch anders als der Zirkus möchte diese Aufführung das Publikum nicht nur unterhalten und zum Lachen zu bringen, denn auch in all den unterhaltsamen Szenen gibt es Verweise auf die Gegenwart. Diese Brüche, die im Stück wiederholt vorkommen, verweisen explizit auf die derzeitige politische und gesellschaftliche Situation. Beispielsweise auf den Krieg in der Ukraine. In “Wer immer hofft, stirbt singend” ist zu Beginn und am Ende eine Bombe auf der Bühne präsent, und unser Lachen ist in der gesamten Show ein bitteres.
Am Ende der Show, als die Bühnenarbeiter*innen die Bühne leergeräumt haben, gibt Leni auf und verlässt weinend den Zirkus, diese erstaunlich leere Bühne ohne Theater und ohne Hoffnung. Dieses Bild ist so stark, dass ich mich nicht mehr auf die nächsten Szenen konzentrieren kann. Für mich endet hier das Stück, mein Geist und meine Gefühle bleiben in diesen Bildern, ich fange an nachzudenken. Doch das Theater geht in den nächsten Szenen weiter. Ich persönlich brauche mehr Zeit zum Nachdenken und Durchatmen.
Happy End mit Bombe?
Was ist, fragt eine Stimme aus dem Off, der Unterschied zwischen dem typischen Happy End im amerikanischen und im russischen Kino? Warum suchen wir immer nach einem Happy End? Die Inszenierung selbst hat mehrere Enden, und diese Enden haben mich durcheinandergebracht. Nachdem Leni die Bühne verlassen hat, zeigt die nächste Szene die Bombe, die von den Theatertechnikern immer wieder hoch- und heruntergezogen wird, aber nie zu Boden fällt und detoniert. Dann sehen wir im Live-Video drei Schauspieler*innen, die in der Theaterkantine sitzen. Als Superheld*innen verkleidet, sprechen sie über Ratlosigkeit. Dann laufen sie zurück zur Bühne und werden dabei von der Livekamera verfolgt. Als sie die Tür des Theatersaals öffnen, jubelt das Publikum darüber, dass die Held*innen zurück sind.
Mit der Rückkehr der Superheld*innen gibt es wieder Hoffnung. Sie entschärfen die Bombe und packen sie in eine Box, die Welt wird im Sinne des amerikanischen Happy Ends gerettet. Dabei denke ich immer noch ständig an Leni, die die Bühne verlassen hat und nun außerhalb des Zirkus weiterleben muss.
Doch es gibt noch ein weiters und letztes Ende. Die Schauspielerin Johanna Kappauf läuft auf dem Drahtseil, wie die Puppe von Manfred zu Beginn des Stückes. Meine Gedanken kehren zu dieser ersten Szene von Manfreds Tod zurück. Kappauf sagt: “Es gibt ein Bild von einem Engel. Seine Augen sind groß, sein Mund ist geöffnet, seine Flügel sind angespannt, er sieht aus wie der Engel der Geschichte.” Auf dieser Reise wird dem Publikum durch die vielen Enden die Möglichkeit gegeben, individuell zu wählen, welches Ende einem am meisten zusagt: Ein Ende mit oder eines ohne Hoffnung. Für mich bleibt derselbe leere Theatersaal mit einem leeren blauen Sofa und dem Geruch von Popcorn in der Luft ohne Hoffnung. Und der Satz: “Das, was wir den Fortschritt nennen, ist dieser Sturm”.
Hier finden Sie noch eine weitere Kritik zur Inszenierung “Wer immer hofft, stirbt singend” aus der Redaktion; und zwar von Zsofia Dull in einfacher Sprache.