Happy Birthday, Grenzenlos Kultur! Anlässlich der 25. Festivalausgabe stöbert die diesjährige Blog-Redaktion in den Archiven und hebt besondere Fundstücke noch einmal ins Rampenlicht. Heute: Eine Kritik der Inszenierung “Black Tie” von Rimini Protokoll aus dem Jahr 2011. Heute Abend feiert “Der Kaukasische Kreidekreis” von Rimini Protokoll und Theater HORA Deutschlandpremiere.
“Es gibt Kinder aus dem Bauch und es gibt Kinder aus dem Flugzeug”, und Miriam Stein ist definitiv ein Kind aus dem Flugzeug. Das haben ihr ihre Eltern seit der Kindheit erzählt, denn zu übersehen war es nicht. Schwarze Haare, dunkle Augen. Ihre Eltern und Geschwister dagegen sind blond und blauäugig. Miriam Stein, oder Yung Min Park, wie ihr koreanischer Name lautet, wurde in Seoul geboren und im Säuglingsalter von der Familie Stein adoptiert. Nun steht sie auf der Bühne und versucht, die Geschichte ihrer Herkunft zu ordnen und zu überdenken.
Ein schwieriges Thema steht im Mittelpunkt von Rimini Protokolls “Black Tie”, das am 23. und 24. September im Mainzer KUZ gezeigt wurde. Doch ist das Theaterlabel dafür bekannt, sich großen und oft auch schwierigen Themen künstlerisch mithilfe von “Expert*innen des Alltags” zu nähern. Hierfür wurde das Kreativteam, bestehend aus Helgard Haug, Stefan Kaegi und Daniel Wetzel, bereits mehrfach mit namhaften Auszeichnungen geehrt.
Autorin und Regisseurin Stein ist allerdings eine etwas außergewöhnliche Alltagsexpertin, denn mit ihrer ungezwungenen Art und einer höchst professionellen Bühnenpräsenz wirkt es fast so, als hätte sie nie etwas anderes als Schauspielen gemacht. Zusammen mit der Aufgeschlossenheit der Protagonistin ist die dramaturgische Bearbeitung ihrer Lebensgeschichte ein Erfolgsgarant für einen gelungenen Theaterabend. Denn wenn sie sich auf die Reise nach den Geheimnissen ihrer Herkunft begibt, gleicht diese Spurensuche einem spannenden Krimi.
Mit Craig Venter, dem Begründer des Projekts zur Sequenzierung des menschlichen Genoms, geht es los. Damit erklärt sich auch das Bühnenbild – mehrere Podeste und Pulte, die mit einer Folie aus entschlüsselten Genomteilen verkleidet sind. Darin sind einige rote Kreise zu erkennen – das sind die Abschnitte, die Miriam Steins Erbinformationen von denen einer durchschnittlichen weißen Europäerin unterscheiden, insgesamt nur 0,1 Prozent. Im nächsten Moment geht es um die Protagonistin selbst, um ihre Adoptionsakten, um ihre Doppelidentität, um ihre Kindheitserinnerungen und Familienbilder. Gleichzeitig aber auch um Korea, um die Geschichte des zerrissenen Landes und Adoptionen. Vor der flirrenden Projektion einer Wohnzimmertapete stehend rechnet Miriam Stein vor, wie viel Geld sie ihre Eltern in den ersten 25 Jahren ihres Lebens gekostet hat und kommt auf über 50.000 Euro. Sie zeigt absurd anmutende Youtube-Videos von ersten Begegnungen mit Adoptivkindern und deutsch-koreanischen Familienzusammenführungen. Begleitet von der angenehmen, atmosphärischen Musik, live gespielt von Peter alias Ludwig, betrachtet sie aus einer recht persönlichen ‘Vogelperspektive’ politische und soziale Folgen einer internationalen Adoption und gibt zu, dass sie diese Art von grenzübergreifender Wohltätigkeit „ankotzt“. Denn trotz aller Möglichkeiten, die sich ihr in Deutschland geboten haben, fehlte es an etwas – an dem Wissen um die eigenen Wurzeln.
Um ihre Herkunft etwas zu erhellen, entschließt Miriam Stein sich 2006 nach reiflicher Überlegung zu einer Korea-Reise. Wenn sie die Reise im KUZ nachstellt und sich mit großer Taschenlampe auf die Suche nach den 0,1 Prozent Abweichung in ihrem Genom macht, eilt ihr Hye-Jin Choi zur Hilfe. Gemeinsam stellen sich die jungen Frauen vor, wie Miriams Leben wohl verlaufen wäre, wenn sie zufällig Schwestern gewesen wären. Dann würde auch in ihrer Berliner Wohnung über dem Sofa ein typisch koreanisches Familienporträt hängen, auf dem sie aufgrund des Aussehens nicht auffallen würde. Dann würde sie fließend Koreanisch sprechen und sich nicht bei jedem neuen Wort, das ihr Hye-Jin an diesem Abend beibringt, zum Amüsement der Zuschauer die Zunge brechen – einer der Momente, in denen Stein plötzlich unsicher wirkt. Nebenbei erfährt die Autorin, dass sie als Baby gar nicht im Schuhkarton vor dem Rathaus von Seoul ausgesetzt wurde, wie ihr immer erzählt wurde, sondern aus einer ganz anderen Stadt stammt. Und sie muss feststellen, dass sie das Geheimnis ihrer Herkunft wohl nie lüften wird, da alle Unterlagen, die darüber Aufschluss hätten geben können, bei einem Brand im Waisenhaus vernichtet wurden.
Doch Miriam Stein gibt nicht auf – am Ende lässt sie für “Black Tie” ihr Genom entschlüsseln, um wenigstens auf diese Weise Auskunft über ihre Wurzeln zu bekommen. Die Ergebnisse überraschen nicht – eine Weltenbürgerin ist sie, was allen Anwesenden auch ohne die teuren Gentests irgendwie bereits klar geworden ist.