Ein Interview mit Christina und Elisabeth Schelhas zum Auftakt des diesjährigen Festivals Grenzenlos Kultur Vol. 24
Blog-Redaktion: Wie habt ihr Andreas Meder, den Festivalleiter, kennengelernt und wie hat sich die Zusammenarbeit für Grenzenlos Kultur ergeben?
Christina Schelhas: Das ist tatsächlich eine interessante Geschichte. Elisabeth und mir sind die Festivals von „Lebenshilfe Kunst und Kultur“ schon seit mehreren Jahren bekannt. Vor zehn Jahren haben wir gemeinsam mit unserer jüngeren Schwester das Theaterstück „There is no Orchestra“ entwickelt und wurden mit der Produktion auf das Festival No Limits in Berlin eingeladen. Dort haben wir Andreas Meder kennengelernt. Nach weiteren Begegnungen und Zusammenarbeiten hat er uns als Unterstützung für die Organisation der Festivals angefragt. Nun sind wir mit Kopf und Haaren, mit Herz und Seele dabei.
Elisabeth Schelhas: Ich bin seit Januar in der Produktionsleitung angestellt und Christina ist im künstlerischen Bereich, der Kuration und Organisation tätig. ,,Lebenshilfe Kunst und Kultur” ist eine gemeinnützige Organisation, die seit 1997 inklusive Theaterfestivals organisiert. Andreas Meder als Initiator hat die Festivals ins Leben gerufen und ist nun seit 25 Jahren mit großer Leidenschaft dabei. Grenzenlos Kultur ist dabei das älteste inklusive Festival in Deutschland.
CS: Die Festivals der „Lebenshilfe Kunst und Kultur“ hatten und haben einen großen Einfluss auf die Entwicklung der inklusiven Theaterszene, insofern unter den freien Gruppen viele Kooperationen und Verbindungen, auch mit festen Theaterhäusern, geschaffen wurden.
ES: Ursprünglich sollte Grenzenlos Kultur einmalig stattfinden. Der große Erfolg etablierte das Festival jedoch zu einem jährlichen Event. Anfangs fand es im KUZ statt, 2015 ist es dann ins Staatstheater Mainz umgezogen. 2023 feiert Grenzenlos Kultur bereits sein 25-jähriges Jubiläum. Eine ähnliche Entwicklung lässt sich bei vielen Festivals von „Lebenshilfe Kunst und Kultur“ beobachten: einmal stattgefunden, sind sie nicht mehr wegzudenken.
Blog-Redaktion: Wie ist die Stückauswahl für die diesjährige Festivalausgabe zustande gekommen? Welche Stimmen waren an der Auswahl beteiligt und wie spiegelt sich der thematische Schwerpunkt Osteuropa wider?
ES: Das Programm lässt sich dramaturgisch in zwei Hälften aufteilen. So hat das kuratorische Team um Andreas Meder, Jörg Vorhaben und Christina Schelhas beispielsweise Produktionen ausgesucht, welche eine Kooperation aus festen und inklusiven Ensembles bilden. Exemplarisch sind hier zu nennen Vanessa Stern und das Berliner Theater Thikwa mit „Die Rache der Panda Pussies“ oder Theater Hora und das freie Performancekollektive Henrike Iglesias mit „Es war keinmal oder: Das Märchen von der Normalität“.
CS: Der Schwerpunkt Osteuropa wird neben dem Symposium auch über Produktionen aus Osteuropa verwirklicht. Das Symposium, kuratiert von Saša Asentić, bietet vor allem Referent*innen und Künstler*innen mit Behinderung eine Möglichkeit, ihre Arbeiten vorzustellen und über ihre Arbeitsstrukturen und ihre Wünsche zu reden. Die von Asentić gewählten thematischen Schwerpunkte „Politik der Fürsorge, Präsens und Solidarität“ schaffen Raum zur Diskussion.
Um das Symposium herum gibt es außergewöhnliche Produktionen osteuropäischer Künstler*innen, beispielsweise „Discover Love“ vom Belarus Free Theatre oder „Risk Lab“ von Ada Mukhina und Anton Ryanov, welche sich mit dem Thema Risiko in der Kunst beschäftigen und die westeuropäische Sichtweise auf den Kopf stellen. Weiter fragt die Produktion „Dance in the 21th Century“ von Natalija Vladisavljevic und Ensemble nach einem Kunstbegriff für das 21. Jahrhundert. Besonders ist dabei, dass Natalija als Künstlerin mit Downsyndrom und Teil des Ensembles die Position sowie Perspektive der Regie einnimmt.
Blog-Redaktion: Ist die Professionalität einer Gruppe oder einer Arbeit die Voraussetzung dafür, dass sie zum Festival eingeladen wird?
ES: Ja! Das Festival Grenzenlos Kultur versteht sich als Plattform für professionell arbeitende Künstler*innen mit und ohne Beeinträchtigung. Vor allem geht es uns darum, die gleichberechtigte Teilhabe von Künstler*innen mit Beeinträchtigung auf und hinter der Bühne in der Kulturlandschaft zu unterstützen. Künstler*innen einen Arbeitsmarkt zu ermöglichen, ist daher essenziell.
Blog-Redaktion: Wie gestaltet sich die Finanzierung und die Förderung seitens der Träger?
CS: Veranstalter sind wir als Organisation „Lebenshilfe Kunst und Kultur“ in Kooperation mit dem Staatstheater Mainz und das ganze Projekt wird gefördert von Aktion Mensch und dem Kultursommer Rheinland-Pfalz.
ES: Das Symposium wird in diesem Jahr zusätzlich vom Fonds Darstellenden Künste gefördert.
Blog-Redaktion: Finden sich die Förderungen und Kooperationen leicht zusammen?
ES: Die Festivals sind immer auf Fördergelder angewiesen und müssen sich immer wieder neu um die Finanzierung kümmern. Das bedeutet, dass jedes Jahr für jede Festivalausgabe viel organisatorische Arbeit ansteht.
Blog-Redaktion: Welche Möglichkeiten nutzt Ihr, um möglichst viele Menschen mit und ohne Behinderung für einen Festival-Besuch zu erreichen?
CS: Das Einzigartige an dem Festival ist, dass es viele Kooperationspartner in der Stadt und einen großen Kreis an Interessierten der inklusiven Theaterszene gibt, woraus sich ein riesiges Netzwerk entwickelt hat. Explizit für junge Erwachsene haben wir unsere Social Media-Kanäle erneuert, um von da aus das Festival mit Fotos und Berichten thematisch noch weiter zu streuen.
ES: Für Student*innen der Uni Mainz gilt weiterhin das attraktive Flatrate-Angebot. Überdies hat Grenzenlos Kultur auch ein breites Stammpublikum, das gern wiederkommt.
Blog-Redaktion: Im Hinblick auf die angestrebte Normalisierung im Umgang mit Menschen mit und ohne Behinderung und die Werte, die beim Festival thematisiert und vermittelt werden – wäre es nicht wünschenswert, dass man das Festival irgendwann nicht mehr braucht weil, die Werte bereits im Alltag als selbstverständlich angekommen sind?
ES: Ich würde sagen, man braucht das Festival auf jeden Fall. Vielleicht wäre es ein Ansatz, dass sich das Festival so erfolgreich durchsetzt, dass alle Theatergruppen aus der freien und etablierten Theaterszene sich auch unbedingt hier zeigen wollen und deshalb inklusiv arbeiten. Überflüssig wäre das Festival dann nicht.
CS: Das ist noch Zukunftsmusik. Es entwickelt sich zwar viel in der Kunst- und Kulturszene, aber noch lange nicht genug.
Blog-Redaktion: Institutionen wie das Staatstheater können vom Festival sicherlich viel lernen – gerade mit Blick auf Barrierefreiheit. Da stellt sich die Frage: Was bleibt nach dem Festival?
ES: Im Gespräch mit Jörg Vorhaben, dem Chefdramaturg des Staatstheaters Mainz, stellte sich heraus, dass sich Entwicklungen hinsichtlich Barrierefreiheit am Theater durchgesetzt haben. Allerdings ist es in einem so großen Apparat etwas zeitaufwendiger, Dinge nachhaltig umzusetzen.
Blog-Redaktion: Welchen Mehraufwand bedeutet es für euch, Dinge für und während des Festivals umzusetzen, die sonst nicht immer möglich sind und welche Hindernisse treten dabei auf?
CS: Auf die Barrierefreiheit bezogen gibt es verschiedene Dinge. Eine notwendige Voraussetzung ist zum Beispiel, dass die räumliche Barrierefreiheit gegeben ist. Darüber hinaus gibt es viele Barrierefreiheiten, die wir versuchen zu ermöglichen, wie etwa Vorstellungen mit Audiodeskription und das Angebot einer Haptic Access Tour im Vorfeld.
ES: Und die Inszenierung von Claire Cunningham und Jess Curtis ,,The Way You Look (at me) Tonight” wird z.B. bei der zweiten Aufführung in Gebärdensprache übersetzt.
CS: Wir beide haben ja nun einmal eine nicht-behinderte Perspektive. Wenn man dann ein Angebot für alle schaffen will, darf man nie vergessen, die Perspektive zu wechseln und Menschen zu involvieren, die es betrifft. Das bedarf viel Zeit und genaues Arbeiten.
Blog-Redaktion: Was möchten Sie den Festival-Zuschauer*innen zum Schluss noch mitgeben?
CS: Kommt alle zum Festival! Es gibt wirklich ein spektakuläres Programm mit feministischen Positionen freier Gruppen, Familienproduktionen und Aufführungen, die sicherlich viel Raum für politische Diskussionen bieten. Zur Zeit liegt politisch so viel im Argen, dass es eine der dringendsten Fragen ist: Wie wollen wir miteinander umgehen, miteinander arbeiten und wie wollen wir uns politisch, europa- und weltweit auch künstlerisch unterstützen und vernetzen?