Was passiert mit einer Welt, in der das Wünschen noch geholfen hat und Wunder noch Wirklichkeit waren; wenn man realisiert, dass diese Wünsche normierte Wünsche sind und auf normierten Werten beruhen? Dann wäre diese Märchenwelt, die eigentlich der Wirklichkeit entfliehen möchte, nah dran an der Realität.
,,Es war keinmal oder: Das Märchen von der Normalität“ ist eine Koproduktion von und mit Performer:innen des feministischen Theaterkollektivs Henrike Iglesias und Theater Hora, der bekannten inklusiven, freien Tanz-, Theater- und Performancegruppe aus Zürich. Aufgeführt im Rahmen des Festivals Grenzenlos Kultur Vol. 24, verhandelt die Inszenierung die dialektische Entwicklung der Phantasie in der Märchenwelt und deren Folgeschäden für den gesamtgesellschaftlichen Alltag anhand der Frage: Wer oder was ist schön?
Vom Be- zum Hinterfragen einer Oberfläche
Acht Menschen auf der Bühne im kleinen Haus des Staatstheaters Mainz fragen einen unsichtbaren Spiegel aus dem Off, ob sie schön sind. Der Spiegel urteilt schmeichelnd, die Menschen sind zufrieden. Die Gewissheit stimmt die Menschen gerade solange glücklich, bis sie anfangen, ihre eigene Schönheit in ein Verhältnis zueinander zu setzen. Nur schön zu sein, reicht nun nicht mehr, wenn man schöner als jemand anderes sein kann, oder? Dem Spiegel wird die Fragerei zu viel, deshalb macht er sich los und verlässt die Menschen. Seine Abwesenheit lässt die Performer:innen weiter fragen: Warum möchte ich dieses ,,schön“ eigentlich sein? Und warum muss ich mich von einer spiegelnden Oberflächlichkeit bewerten lassen? Wer spiegelt sich hier eigentlich, ich oder doch gesellschaftliche Erwartungen?
Antworten werden in Grimms Kinder- und Hausmärchen gesucht. Jedoch ergeben sich daraus eigentlich auch nur noch mehr Fragen. Warum wünscht sich eine Mutter, dass ihr Kind eine Haut so weiß wie Schnee, Lippen so rot wie Blut und Haare so schwarz wie Ebenholz hat? Warum schauen sieben Zwerge einem Mädchen beim Schlafen zu? Und warum lügt der Spiegel eigentlich nicht einfach, um Schneewittchen zu schützen?
Schönheit liegt im Gefühl, nicht im Ideal
Aus dem Bedürfnis, die überholten Vorstellungen von Schönheit zu hinterfragen, wächst die Motivation, die Schönheit aus ihrem Gefängnis der Konventionen zu befreien. Für diese Mission rüsten sich die acht Performer:innen (darunter aus dem Kollektiv Henrike Iglesias mit auf der Bühne nur Sophia Schroth) mit ausgefallen-individuellen, vor allem aber rollen- und geschlechterunabhängigen Kostümen von Mascha Mihoa Bischoff. Das Tauschen sowie das gegenseitige Ausprobieren der Outfits als Teil der Performance verstärken diesen Effekt und betonen gleichzeitig die geforderte Diversität und Befreiung von maßgeschneiderten Rollenbildern.
Auch das von Henrike Iglesias entworfene Bühnenbild distanziert sich mit seinen schlichten Leinwand-Installation (sowie einem übergroßen, von der Decke baumelnden Rapunzel-Zopf) wirkungsvoll von einer verklärten Märchenidylle. Erzählend, tanzend und singend verhandeln die Performer:innen persönliche Geschichten zu ihren Begriffen und Gefühlen von Schönheit. Selbstbewusst, phantasievoll und vor allem befreiend wirkt die Relaxed Performance auf das Publikum. Das Wohl- und Mitfühlen ist deutlich erwünscht. Die glühende emanzipatorische wie selbstbewusste Energie der kooperierenden Kollektive schwingt durch den Abend. Es sind acht wunderschöne Persönlichkeiten auf einer Bühne.
Die Moral von der Geschichte
Die kinder- sowie erwachsenenfreundliche Märchenstunde hält uns, dem Publikum, die Absurdität gesellschaftlicher Normen und märchenhafter Gesetzmäßigkeiten vor Augen und Gehör. Schönheit lässt sich nicht mit dem Maßband abmessen, noch weniger von zwei Autorenbrüdern in Worten für alle Zeiten festschreiben. Schön ist, wer sich schön fühlt. Selbstliebe und Diversität werden an diesem Abend gefeiert. Das Ideal der normativen Schönheit: es war einmal.