Inklusion begreifen

Ein Glas Tonic Water neben Topffplanze mit Rollstuhl im Hintergrund
Tonic mit Topfpflanze. Foto: Holger Rudolph

Als das Festival Grenzenlos Kultur 1997 zum ersten Mal stattfand, war der Begriff ‘Inklusion’ in Deutschland noch nicht präsent. Andreas Meder, der das Festival gründete und seitdem kuratiert, erzählt, dass z.B. mit der Bezeichnung ‘integratives Festival’ Versuche unternommen wurden, die damals neue Form zu benennen. Sehr früh verwendet Meder für Grenzenlos Kultur die Bezeichnung ‘inklusives Theaterfestival’. Warum sind solche Begriffe wichtig? Welche Bedeutung(en) tragen sie? Und was bedeutet ‘inklusiv’ für ein Theaterfestival?

Die Bedeutungen von Begriffen

Die Erkenntnis, dass Sprache Wirklichkeit schafft, ist mittlerweile aus der wissenschaftlichen Theorie in die alltäglichen, öffentlichen, privaten und politischen Diskurse gewandert. Ihren Ursprung findet sie um 1955 in der Sprechakttheorie, als der Linguist John L. Austin das wirklichkeitsverändernde Potential von Aussagen herausstellt, sogenannter ‘performativer Sprechakte’ – wie dem “Ja, ich will” bei der Hochzeit. Indem sie sich auf Austins performative Sprechakte bezieht, schlägt die Philosophin Judith Butler die Brücke zur Identität: Mit Worten werde insofern eine Handlung vollzogen, wenn sie einer Person etwas zuschreiben (z.B. ein Geschlecht) und damit Identität erzeugten.

Wer darf Zuschreibungen vornehmen? Begriffe haben nicht nur eine neutrale Definition – ihre Geschichte und die Kontexte, in denen sie verwendet werden, fließen auch in ihre Bedeutung ein. Nur betroffene Personen können darüber sprechen, was für einen persönlichen Einfluss Begriffe haben und welche Selbstbezeichnungen sie bevorzugen. Besonders bei diskriminierungskritischer Sprache ist heute ein großes Arsenal an Informationen zugänglich. Beispielsweise auf leidmedien.de wird über Ableismus (Behindertenfeindlichkeit) und über Begriffe von Behinderung aufgeklärt, aber auch über Erzählmuster und Klischees, die in Verbindung mit Behinderung stehen.

Ein Schiffchen im See – aus Michael Turinskys “Precarious Moves”, Foto: Holger Rudolph

Über Schulen und Gesetze: Inklusion

Im Zuge von Behindertenrechtsbewegungen in den USA der 1970 Jahre beginnt sich der Begriff ‚Inklusion‘ (inclusion) im englischsprachigen Raum zu verbreiten. In den 1990ern wurde der Begriff von internationalen Nichtregierungsorganisationen in Bezug zur Bildung gestellt – mit dem Ziel einer „Schule für Alle“ (vgl. https://leidmedien.de/geschichte/inklusion/). Auch heute wird der Begriff in Deutschland häufig in der Schulpädagogik gebraucht. Seine gesetzmäßige Dimension erhielt der Begriff, als ‚Inklusion‘ 2008 von der UN-Behindertenrechtskonvention als Menschenrecht erklärt wurde. Deutschland unterzeichnete sie 2009.

Den Gegensatz bildet das Modell der Exklusion (von lat.: excludere – auschließen): Eine Menschengruppe setzt sich selbst als Norm und schließt alle Menschen aus, die dieser nicht entsprechen. Bei einem integrativen Modell (‚Integration‘ von lat.: integer = ganz) sollen Menschen mit Behinderung Teil der Gruppe sein, das Umfeld soll aber nicht angepasst werden. Dadurch bleiben Menschen auf ihre ‘Andersheit’ reduziert. “Durch Inklusion (von lat.: includere – einbeziehen) dagegen sollen gesellschaftliche Strukturen so verändert und gestaltet werden, dass sie allen Menschen mit ihren unterschiedlichen Fähigkeiten von Anfang an besser gerecht werden” (vgl. Christoffel Blindenmission, http://cbm.de/).

Ein inklusives Theaterfestival

Wie wirkt sich das Ziel der Inklusion auf ein Theaterfestival aus? Wenn Menschen auf der Bühne in Gebärdensprache übersetzen oder das Visuelle beschreiben, um Barrieren abzubauen, formt das auch die Ästhetik der Aufführung – diese Form der kreativen Gestaltung wird deswegen auch Aesthetics of Access genannt. Konventionen von Theateraufführungen wie ein verdunkelter Publikumsraum oder das Zuschauen im Sitzen werden hinterfragt, weil sich Menschen dadurch unwohl fühlen oder es ihnen Schmerzen bereitet. Die Alternative einer Relaxed Performance bietet den Zuschauer:innen die Möglichkeit des Liegens und eine bessere Beleuchtung des Publikumsraums. Auch Wahrnehmungskonventionen des Theaters werden damit in Frage gestellt: Darf man sich im Theater entspannen?

Anhand der Performance “Karantena #millionsmissing”, bei der Kristine Nilsen Oma über einen Live-Stream in ihrer Wohnung zu sehen ist, lässt sich auch ein Zusammenhang von Inklusion zu digitalen Theater-Formaten herstellen. Die Performerin wie auch potentielle Zuschauer:innen können aus gesundheitlichen Gründen nicht in Präsenz anwesend sein. Angela Alves, selbst Tänzerin, weist deswegen daraufhin, dass das digitale Format neue Zugangsbedingungen schafft, auch wenn es eigene Barrieren aufbaut.

Vor Ort muss nicht nur die Architektur allen Menschen physischen Zugang zu den Räumlichkeiten vor und hinter der Bühne gewähren. Auch eine Öffnung des Publikumsraums vor und während der Aufführungen kann Barrieren abbauen. Zusätzlich zur Gestaltung der Programme mit Trigger-Warnungen und in einfacher Sprache bildet dies auch Ansprüche an die Theaterinstitutionen außerhalb des Festivals – es kann aber auch als positives Vorbild dienen. Wenn Transparenz und Kommunikation zwischen Performer:innen, Produktion und Publikum herrschen, können Menschen mit Behinderung ihre individuellen Geschichten erzählen und Repräsentation schaffen, ohne auf eine Kategorisierung reduziert zu werden.

Prozesse und Ideale

Während Inklusion heute, anders als zu Beginn des Festivals 1997, zu einem geläufigen Begriff geworden ist, bevorzugt die Ko-Kuratorin Angela Alves den Begriff der ‘gleichberechtigten Teilhabe’. Auch wenn er synonym zu ‘Inklusion’ verwendet wird, schließt ‘gleichberechtigte Teilhabe’ die Auffassung aus, dass es eine definierte, normative Mehrheit gibt, in die bestimmte Minderheiten integriert oder inkludiert werden müssen. Alves und Meder betonen beide, dass es vor allem darum geht, einen fortlaufenden Prozess zu beschreiben – zum Ideal einer diversen Gesellschaft, an der alle gleichberechtigt teilhaben können.

Viele hier aufgeführte Begriffe zur Barrierefreiheit und weitere Beispiele werden im Glossar erklärt.