Ein virtueller Trauermarsch

“Lebende minus Tote” ist eine Zusammenarbeit zwischen dem Theaterkollektiv theatrale subversion, dem Theater Hellerau in Dresden und dem Komponisten Mathias Monrad Møller. Es ist ein 360°-Musiktheaterfilm, also eine Verbindung aus Musik, Theater und Film. Durch die Virtual-Reality-Technologie (VR) wird die Aufzeichnung einer Aufführung in Hellerau wieder erlebbar. Die Grundlage des Stückes bietet das „Archiv der lebenden Toten“, eine Ansammlung vieler aufgezeichneter Stimmen von Angehörigen der Corona-Risikogruppen, die auf diese Weise ihr digitales Vermächtnis für die Nachwelt hinterlassen wollen. Die Darsteller:innen, die sich aus vier Performer:innen (Alexander Bauer, Katharina Bill, Michael Neil McCrae, Romy Weyrauch), drei Sänger:innen (Wolf-Dieter Gööck, Paula Götz, Leila Schütz) und einem Komponisten (Mathias Monrad Møller) zusammensetzen, beschäftigen sich intensiv mit den Themen Sterblichkeit, Tod und Trauer.

Auf dem Drehhocker ins Musiktheater, Foto: Holger Rudolph

04.10.2021, Kakadu-Bar Mainz. Zehn Minuten vor Aufführungsbeginn machen wir uns mit acht weiteren Personen auf den Weg in den ersten Stock der Bar, wo alle mit VR-Brillen und einem dazugehörigen Controller ausgestattet werden. Wir setzen uns im Raum verteilt auf drehbare Hocker. Anschließend informiert uns die künstlerische Leitung, bestehend aus Alexander Bauer, Romy Weyrauch und Michael Neil McCrae, über die Idee des Projekts. Voller Neugier für dieses neue Theaterformat setzen wir uns nun alle die Brillen auf und tauchen in die virtuelle Welt ein.

„3…2…1…0“

Eine Mitarbeiterin zählt den Countdown runter, bei “Null” drücken wir auf den A-Knopf unseres Controllers. Sofort sitzen wir nicht mehr in dem Raum über der Kakadu-Bar, sondern auf der Bühne des Theaters Hellerau. Der 360°-Blick ermöglicht uns eine genaue Betrachtung des vollständigen Theatersaals: Man selbst oder eher die Kamera befindet sich im Zentrum der Bühne. Um diese herum sind Stühle in vier Reihen aufgestellt, die aufgrund der Pandemie-Maßnahmen ausreichend Abstand zum Nachbarstuhl halten. Hinter der zweiten Reihe hängen weiße, halbtransparente Vorhänge. Diese werden im Verlauf immer wieder für verschiedene Videoprojektionen genutzt.

Unser Blick richtet sich nach vorne zum eigentlichen Zuschauerraum des Theaters. Hier sprechen Katharina Bill, Alexander Bauer und Michael Neil McCrae über die mythologische Figur Charon und dessen Aufgabe, Tote über einen Fluss ins Totenreich zu fahren. Gleichzeitig betreten die ersten Zuschauer:innen den Theatersaal. Sie nehmen Platz und während wir diesen Prozess beobachten, breitet sich das Gefühl aus, beobachtet und gemustert zu werden. Doch es sind nicht wir, die beobachtet werden, sondern die Kamerakonstruktion. Glück gehabt! Wir fühlen uns sicherer in der Rolle der unsichtbaren Beobachter.

Neben den Spiegeln, Foto: Holger Rudolph

Der Tod und die Trauer

Doch was erwartet uns? Kurz gesagt: Acht Künstler:innen reden und singen über Tod, Trauer, Sterblichkeit und den Umgang mit diesen. Alles Dinge, die durch Corona für viele zum zentralen Thema wurden. So spricht Katharina Bill, die in der Aufführung die Fährfrau mit Paddel in der Hand darstellt, über drei Wege, sich zum Weinen zu bringen. Nach jedem besprochenen Weg eine Großaufnahme ihres Gesichts auf den Leinwänden, wie sie die besprochene Methode anwendet bis ihr schließlich einige Tränen über das Gesicht laufen.

Auch andere Künstler:innen zeigen wie sie mit den Themen umgehen:

Die Künstlerin Romy Weyrauch fragt ihre Großtante Inge per Sprachnachrichten nach deren Erfahrungen mit Beerdigungen zu fragen und möchte wissen, welche Beerdigung ihr vor allem im Gedächtnis geblieben ist, doch aufgrund Inges mangelnder technischer Fähigkeiten erhalten wir keine klare Antwort.

Auch Wolf-Dieter Gööck spricht über seine Erfahrung mit Trauer. Er wundert sich, wieso ausgerechnet er bei der Beerdigung seiner Mutter nicht weinen konnte, während ein anderer Gast, der ihr nicht so nahestand, seine Trauer zeigte. Hier ebenfalls keine Antwort auf das “Warum”.

Bei einem Gespräch zwischen Alexander Bauer und dem digitalen Avatar-Alex wird klar: Technik ist kein Ersatz für den Menschen. Doch durch Corona wurden die Kontakte eingeschränkt und als Ersatz hat Alexander eine digitale Version von sich zu seiner Familie geschickt. Allerdings kann diese Version nicht sagen, was Menschen wirklich denken oder fühlen. Ein eher mitleidendes Gefühl breitet sich in uns aus, da Alexanders Einsamkeit uns auch an die eigene zu Beginn der Pandemie erinnert, als es noch Kontaktbeschränkungen und Ausgangssperren gab. Definitiv keine einfache Zeit.

Trauermarsch der Lebenden

Wie bei einer Beerdigung wird es am Ende Zeit für einen Trauermarsch zum Grab. In Hellerau ist es der Marsch zur Publikums-Tribüne. Getragen von Michael McCrae, führt unsere Kamera den Trauerzug an. Wer zu Grabe getragen wird ist unklar, aufgrund der Kameraposition jedoch fühlt es sich so an, als wären wir es. Langsam und schon fast bedächtig läuft McCrae an den Zuschauer:innen im Saal vorbei, die sich still dem Zug anschließen. Allerdings müssen sie vor dem Betreten der Tribüne den anfangs bekommenen Euro, ihren Obolus wieder abgeben. Müssen das nicht auch die Toten in der griechischen Mythologie? Wurde nicht am Anfang über den Fährmann geredet wie jetzt auch wieder? Während die Zuschauer:innen sich auf der Tribüne, auf der Seite der Toten platzieren, wird die Kamera auf ihren ursprünglichen Platz gestellt und das Gespräch zwischen Katharina, Michael und Alexander über Charon erneut geführt. Das Ende des 90-minütigen Projekts oder doch seine Wiederauferstehung?

Gedanken und Meinungen

Es ist erstaunlich, dass trotz oder wegen der Pandemie neue Projekte und Möglichkeiten gefunden werden, um weiterhin Theater zu erleben. Gerade bei dieser Form merkt man, dass nur weil etwas geendet hat, es nicht vorbei sein muss. Obwohl die Aufführung bereits im Juni gezeigt wurde, fühlen wir uns doch anwesend. Da die Grundlage der Inszenierung das Online-Archiv der lebenden Toten ist, lässt sich vermuten, dass durch die VR-Technik so ein Archiv auch für das Theater geschaffen wird.

Uns wurde durch das Teilnehmen an dieser Vorstellung unsere eigene Sterblichkeit bewusst. Auch, dass diese kein Tabuthema sein sollte. Früher oder später begegnet jede:r dem Tod, ob es der eigene ist oder der eines Familienmitglieds. Zu erfahren wie andere mit solchen Situationen umgegangen sind, ist hilfreich. An diesem Abend wurde über verschiedenen Formen des Trauerns gesprochen. Doch wichtiger scheint es, zu verstehen, dass jede Form der Trauer in Ordnung ist.

 

P.S.: Durch die VR-Brillen haben wir uns komplett in diese Aufführung fallen lassen können. Doch es gab auch Nebenwirkungen wie Schmerzen durch den Apparat, Übelkeit und Schwindel. 90 Minuten sind für ein solches Projekt schlichtweg zu lang. Zudem hätte ein Hinweis im Programmheft für Menschen mit Kreislaufproblemen etc. geholfen.