Wie setzt sich ein Körper in Bewegung, wenn die Beziehung zwischen Körper und Umgebung als grundsätzlich prekär aufgefasst wird? Was passiert, wenn ein verletzter Körper auf unsichtbare oder sichtbare Grenzen im Alltag stößt? Mit diesen Fragen, die sich bereits im Vorfeld durch die Auseinandersetzung mit dem Titel und dem Künstler ergeben haben, besuchte ich am vergangenen Sonntag „Precarious Moves“ von Michael Turinsky beim Grenzenlos Kultur-Festival. Mir war bewusst, dass der Performer sich u.a. mit dem Thema Bewegung im Alltag behinderter Menschen beschäftigen wird. Denn „Precarious Moves“ heißt unsichere oder riskante Bewegungen. Ich hatte aber nicht damit gerechnet, dass Turinsky seine eigene Erkrankung nicht als eine individuelle Angelegenheit, sondern auch als eine kollektive gesellschaftliche Aufgabe thematisieren wird. Als ich meinen Platz suchte, habe ich mich gefragt, ob ich in der Lage sein werde, zu verstehen, was ich in den nächsten Minuten auf der Bühne zu sehen sein werde. Denn mir fällt es oft schwer, das Verhältnis zwischen Thema und Ästhetik richtig zu interpretieren.
Die Requisiten auf der Bühne, 2 Tonic-Flaschen, der kleine Tisch und die Blumen, bilden eine gemütliche Atmosphäre, die mich kurz an meine eigene Wohnung, wo ich auch eine ähnliche Ecke habe, denken lassen. Auf diese Weise entsteht der Eindruck, dass das Thema auch in meinem Leben präsent sein könnte.
Da seine Worte aufgrund seiner Erkrankung an einigen Stellen ggf. nicht zu verstehen sind, werden deutsch- und englischsprachige Untertitel auf die Rückwand der Bühne projiziert. Ganz besonderes erinnere ich mich an seine Begrüßung: „I brought some tonic […] I´d love to go for the gin because it helps me with my muscle tone but, you know.” Was möchte er damit sagen? Welche Rolle spielt sein Humor, wenn es um das Thematisieren von Einschränkungen geht?
Im Laufe des ersten Akts beginnt Turinsky mit einem Monolog über politische Dimensionen von Bewegungen, während er die Einzelteile einer BRIO Holzeisenbahn zusammenbaut. Dabei arbeitet er in seiner eigenen Zeit und thematisiert so das Konzept der crip time. Darunter versteht man zum Beispiel die zusätzliche Zeit, die Menschen mit einer Behinderung benötigen, um bestimmte Tätigkeiten auszuführen.
Sehr beeindruckend und inspirierend empfand ich den zweiten Akt, als er in einem rosa Kinderauto mehrmals über die Bühne fährt. Das rosafarbene Licht und Elektromusik begleiten das Geschehen. Nach einer Weile steigt er vorsichtig aus, richtet sich kniend auf und hebt die Arme. An dieser Stelle passiert das für mich Unerwartete: Ganz langsam fängt Turinsky an zu tanzen! Seine Bewegungen sind zwar unsicher, aber trotzdem hört er nicht auf und begeistert damit nicht nur mich.
Mit seiner crip choreography lädt Turinsky das Publikum ein, Zeit und Bewegung ein Stück weit anders zu denken und zu erfahren. In „Precarious Moves“ untersucht der Choreograf, Performer und Theoretiker Bewegungen und setzt dabei die Arbeit an einer sogenannten „choreopolitischen“ Ästhetik fort. In dem biografisch inspirierten Solo erwähnt Turinsky diese zusätzliche Zeit als Widerstand gegen bestimmte Arten von Mobilisierung. So bedeutet resistance für ihn zum Beispiel auch, sich das Frühstück ans Bett bringen zu lassen. Turinsky lässt uns freien Raum zu Interpretationen, aber eine Sache wird für mich klar: crip time fordert Normativität heraus, erkennt die Verschiedenheit von Körpern und ihren Bewegungen an und leistet dadurch Widerstand. In 70 Minuten hat Turinsky uns gezeigt, dass die Verletzlichkeit des Körpers für alle Lebewesen konstituierend ist, insofern alle einander ausgesetzt sind. Am Ende des Stückes gehe ich mit der Erkenntnis nach Hause, dass die Umwelt eine Veränderung benötigt und nicht einzelne Körper.