Irgendwo, irgendwie, irgendwann

Klagenden Sirenenrufen gleich vibrieren die Klänge des Theremins im dunklen Bühnenraum. Nur eine Kerze auf einem kahlen Tisch flackert, erleuchtet fahl die U17-Bühne des Mainzer Staatstheaters wie auch die Erinnerungen vergangener Gräueltaten. Linda Fishan bringt durch das elektromagnetische Feld zwischen Körper und Instrument ihre Gedanken berührungs- und sprachlos zum Klingen. Dicht, intensiv ist dieser Moment. Man wird hineingezogen in eine kollektive, tief sitzende Erinnerungsschicht. Vorgegeben wird dabei nichts – Folgen und Nachspüren jedoch kann man allem.

Linda Fishan spricht vom KZ-Besuch, die anderen hören zu © Jana Mila Lippitz

Die Gedanken und Gefühle, für die Sprache nicht mehr auszureichen scheint, entstanden nach einem Besuch in der Gedenkstätte der ehemaligen Tötungsanstalt Hadamar. Die mixed-abled Gruppe I can be your translator hat sich seit Herbst 2015 mit dem Thema Euthanasie und dem Begriff des lebens(un)werten Lebens beschäftigt. Und zwar als Kollektiv auf Augenhöhe: In „Das Konzept bin ich“ fragt I can be your translator nach dem Umgang mit Gleichberechtigung im Probenprozess und entwickelt neue Formen inklusiver Zusammenarbeit.

Der Gedanke geht auf. Das Stück ist an vielen Stellen selbstreflexiv und gibt Einblicke in den Probenprozess und die Herangehensweise. Zur Vorbereitung fuhren die Künstler*innen gemeinsam zu verschiedenen Gedenkstätten und Mahnmalen und absolvierten einen Workshop beim Gießener Performance-Kollektiv She She Pop. Der Bezug zum Titel ist eindeutig: Das Konzept des Abends wird von Jedem und Jeder definiert und verkörpert.

Dabei macht I can be your translator die Schwierigkeiten und Vorteile kollektiver Zusammenarbeit ebenso zum Forschungs- und Spielgegenstand wie die Geschichte der Euthanasie. Drei Performer*innen lesen die wichtigsten Daten, Stationen, politischen Entscheidungen vor. Spannend dabei ist vor allem die Zeitspanne von 1945 bis jetzt, weil das Unrecht nicht plötzlich aufhörte, sondern Täter noch lange in medizinischer Verantwortung standen und auch die Gesellschaft keinesfalls eine Schuld anerkennen wollte. Bis heute gibt es keine Entschädigungsleistungen an Angehörige der Euthanasie-Opfer. Und ein Ausflug in die gegenwärtige Politik und die Pränataldiagnostik – am Tag der Mainzer Aufführung wurde sie in Ausnahmefällen zur Kassenleistung – verdeutlicht die Aktualität des Themas erschreckend.

Das zweischneidige Schwert Musik: Christian Schöttelndreier, Lis Marie Diehl, Christian Fleck, Christoph Rodatz © Jana Mila Lippitz

Trotz der vielen Handlungsstränge – Dokutheater, Livemusik, Selbstbefragungen im Spieleformat – fügt sich der Abend zu einem ausgewogenen Ganzen. Es gibt die leisen, berührenden Momente, in denen die Inszenierung Raum gibt für das Gedenken und das Trauern; in denen der Sinn und die Wichtigkeit des Erinnerns deutlich wird. Es gibt aber auch die hoffnungsvollen, starken Momente, in denen Mut und Kraft sichtbar werden.

Besonders gelungen ist die musikalische Gestaltung: wirkungsvoll legen sich die einzelnen Stimmen der Performer*innen über die nüchtern vorgetragene Chronologie der Euthanasie-Daten. Die Mischung aus sphärisch-zuversichtlicher Musik und der unprätentiösen, beinahe sterilen Sprache berührt. Gleichzeitig schafft die Musik auch eine Form der Distanziertheit. Dennoch ist „Das Konzept bin ich“ nie Betroffenheitstheater, weil keine Emotionen vorgegeben werden. Stattdessen gibt es einen Seelenstrip der Künstler*innen: Gedanken, Gefühle, Assoziationen. Alles kommt hoch, alles kommt zur Sprache. Und alles hat seinen Platz.

„Man kann spüren, wie die nicht am Leben sind“, sagt Linda Fisahn und meint die in den Gaskammern Ermordeten. Stimmt. Irgendwo auf der Welt fängt mein Weg zum Himmel an, singt Lis Marie Diehl. Stimmt auch. Je nach Lesart ist das ein Versprechen. Oder eine sehr bittere Drohung. Irgendwo, irgendwie, irgendwann.