Es sind immer Annikas

Zwei knatschrote Kunstledersofas stehen auf der Bühne des U17, darauf sitzen vier Personen, zwei von ihnen tragen pinkfarbene Blusen. Die Farben beißen sich so fürchterlich, dass man kaum hinschauen möchte. Muss man auch nicht. Aber zuhören sollte man unbedingt.

Fatma Aydemir im Gespräch mit Moderation Noa Winter
Fatma Aydemir im Gespräch mit Moderation Noa Winter © Holger Rudolph

Zum Glück ist die Kleiderwahl der Herausgeberinnen und Mitautorinnen von „Eure Heimat ist unser Albtraum“, Fatma Aydemir und Hengameh Yaghoobifarah, vollkommen irrelevant. Zentral ist, dass sie intelligente und gleichzeitig witzige Antworten auf Noa Winters Fragen geben. Winter ist Mitarbeiterin beim Grenzenlos Kultur-Festival und Moderatorin der Lesung, die im Rahmen des Festivals in Mainz stattfindet.

Die Autor*innen erzählen, dass sie selbst viele Anthologien gelesen und dabei eine Lücke entdeckt haben – ein Werk aus postmigrantischer Sichtweise im deutschsprachigen Raum. Diese Lücke galt es zu schließen.

Der erste gelesene Text am Abend sind Ausschnitte aus Yaghoobifarahs „Blicke“. Es geht um das ständige angestarrt werden, um verzerrte Ansprüche an Menschen mit Migrationshintergrund und die Problematik, mehreren marginalisierten Gruppen gleichzeitig anzugehören: „eine Minderheit in der Minderheit“. Der geschriebene Essay selbst hat mehr Witz und Biss als die Lesung, bei der man sich etwas mehr Energie gewünscht hätte. Anschließend erzählt Yaghoobifarah, was es mit der wiederkehrenden Figur der Annika auf sich hat: „Kennt ihr Pippi Langstrumpf?“ Als Yaghoobifarah noch klein war, wollten alle anderen Kinder immer Pippi sein: verrückt, unabhängig, cool. Und doch waren die meisten Annikas: weiß, bürgerliche Mittelschicht, langweilig.

Aydemir liest Ausschnitte aus ihrem Beitrag „Arbeit“. Mit einem guten Gefühl für Pointen erzählt sie von struktureller Diskriminierung in der Arbeitswelt und hinterfragt kritisch das Klischee, dass die Deutschen immer nur ans Arbeiten denken würden. Der Text besticht durch seinen Hang zur Provokation. Aydemirs persönlicher Schreibstil kommt durch den Vortrag besonders zur Geltung.

Simone Dede Ayivi, Fatma Aydemir, Hengameh Yaghoobifarah und Noa Winter (von rechts)
Simone Dede Ayivi, Fatma Aydemir, Hengameh Yaghoobifarah und Noa Winter (von rechts) © Holger Rudolph

Den stärksten Moment des Abends liefert Simone Dede Ayivi mit ihrer Schrift „Zusammen“, die den Abschluss des Sammelbandes bildet. Mit sicherer, ausdrucksstarker Stimme beschreibt sie, wie schwierig und gleichzeitig wichtig Solidarität im Alltag ist. Dass sie jeden Naziaufmarsch persönlich nimmt. Und dass sie nicht an Heimat glaubt, sondern an Heimaten. Man kann als Zuhörer*in nicht anders, als jedes ihrer Worte aufzusaugen. Man möchte aufstehen, rausgehen und etwas tun gegen den Rassismus, den Klassismus, den Sexismus.

Das Buch erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit und soll auch nicht die Fortsetzung zu Karl Marx‘ „Das Kapital“ sein, wie Aydemir betont. Es soll die Leser*innen zum Nachdenken anregen. Und es hat definitiv einen Nerv getroffen: Unfassbar viele Hassnachrichten und Videos existieren im Internet, die sich an die Autor*innen richten – nur, weil sie den Begriff „Heimat“ kritisch hinterfragen.

„Was lernen wir daraus?“ fragt Winter zum Abschluss. Die Antwort: Achtsam sein gegenüber unseren Mitmenschen. Und eingreifen, wenn es nötig ist.