Noch bevor der Abend richtig beginnt, riecht es schon nach Fisch. Plötzlich ist der Zuschauer selbst Teil einer (ost)jüdischen kulinarischen Tradition: “Gefilte Fisch”, Fischbällchen. Danny Braverman lässt sie zu Beginn seiner Performance durch die Reihen wandern. Während man den Fisch im Mund schmeckt, beginnt der Engländer seine – im wahrsten Wortsinn – bildreiche Erzählung.
Mit “Wot? No Fish!!” bringt Braverman einen Teil seiner Familiengeschichte auf die Bühne. Im Mittelpunkt stehen die Zeichnungen seines Großonkels Ab Salomons. 1926 malte der Schuhmacher sein erstes Bild auf eine wöchentliche Lohntüte, eine Skizze nur, Haushaltsgeräte. Ein Hinweis auf den Zweck des Geldes? Ab dann malte er jede Woche ein Lohntütenbild. Mit der Zeit werden die kleinen Zeichnungen komplexer, gewinnen an Farbe, an Tiefe.
Unter der Regie von Nick Philippou braucht Braverman nicht viel, um die Geschichte der Bilder in Szene zu setzen. Auf der Bühne im Glashaus des Staatstheaters stehen nur ein Schreibtisch mit Stuhl und Lampe sowie eine große Leinwand. Braverman, im schwarzen, leicht zerknitterten Anzug, trägt die Hauptdarsteller des Abends in einem Schuhkarton unterm Arm: die Bilder seines Onkels Ab. Mit einer Kamera in der Schreibtischlampe wirft er die kleinen Zeichnungen in Großformat auf die Leinwand.
Die Zeichnungen illustrieren die Geschichte von Abs Leben mit seiner Frau und den zwei Söhnen, von Geldnot, verregneten Sommerferien, Weltkriegs-Bombardement. Einer der beiden, Larry, ist Autist, der andere schwul – in einer Zeit, als das noch unter Strafe stand. Was das für die Eltern bedeutet in einer Gemeinschaft, in der Kinder und Enkel als das eigentliche Kapital gelten, auch davon erzählt Braverman. Er selbst wurde oft genug von seinen Eltern an Lieblingsgroßonkel und –tante ausgeliehen – und so selbst Teil der Bilder.
Wie ein Archivar streift sich Braverman sich weiße Baumwollhandschuhe über, legt die Kunstwerke sorgfältig unter die Kamera. Seine Achtsamkeit berührt. An diesem Abend verschwimmen Performer und Privatmensch, Erzähler und Erzähltes. Er selbst ist Teil der Geschichte und das spürt man.
Lebhaft schildert er seine Gedanken zu dem Gezeichneten, zieht Querverbindungen und Schlüsse, verbindet Weltgeschichte und private Tragikomödien. Spielerisch leicht gelingt es ihm, seine Protagonisten in so liebevoller Art zu beschreiben, dass schnell das Gefühl entsteht, man kenne diese Menschen. Auch der nach wie vor anhaltende Fischgeruch trägt seinen Teil dazu bei. Ihre Liebe und ihr Glück als frisch verheiratetes Paar, ihre Angst während des Krieges, ihr Leid und die Schuldgefühle, als sie Larry in ein Krankenhaus geben müssen, in dem die Zustände alles andere als ideal sind – alle diese Emotionen sind im Raum deutlich spürbar. Aus dem Krankenhaus stammt auch der Titel: In einem Bild fragt der sichtlich enttäuschte Larry “Wot? No Fish!!” Und die Eltern? Gucken bedröppelt, schuldbewusst. Offensichtlich haben sie die Fischbällchen vergessen.
So verflicht Braverman Worte und Bilder wie ein moderner Märchenerzähler zu einer dynamischen Geschichte. Das Besondere? Es ist kein Märchen. Die Familie Ab Salomons steht exemplarisch für eine von vielen Familien in dieser Zeit. Braverman führt durch ihre Probleme, ihre Sorgen, ihre Hoffnungen. Er schafft es nicht nur ihre Geschichte zu erzählen, sondern auch ein allgemeines Gefühl für diese Zeit zu vermitteln. Es ist nicht nur die Geschichte seines Großonkels. Es ist die Geschichte des 20 Jahrhunderts, erlebt in 3000 kleinen Zeichnungen eines englischen Schuhmachers.
“Wot? No Fish!!” trifft mitten ins Herz und ist dabei weder kitschig noch sentimental. Die Performance besticht durch ihre Einfachheit. Sie braucht keine großen Effekte oder epische Musik, sondern nur einen Mann, der begnadet von und mit den Zeichnungen seines Großonkels erzählt.