Über das Leben mit Körperbehinderung in Mosambik
Gestern, zweite Vorstellung von Panaibra Gabriel Candas’ “Borderlines”. Ein Abend, der vom zweiten Teil lebt. Zu Beginn fehlt es den langen Sequenzen noch an Spannung, weil sich die Steigerung der Bewegungen und der Ausrufe von körperlicher Anstrengung nicht einstellen will. Es sind die unbequemen Momente danach, in denen das Publikum unruhig wird. In denen scheinbar die passendste Zeit ist zu trinken und zu tuscheln, um nicht sehen zu müssen, wie ein Mittänzer wegen seiner körperlichen Behinderung direkt vor unseren Augen misshandelt und bespuckt wird. “Nobody knows the struggles I’ve seen.” Er dehnt und wiederholt die Worte, bis aus dem Niemand, dem ‘Nobody’, ‘no body’ wird – kein Körper.
Wie es ist, als No-Body, also mit fehlendem Körperteil in Mosambik zu leben, zeigt im Anschluss die Dokumentation “De Corpo e Alma” (Körper und Seele). Sie porträtiert Mariana, Victoria und Vasco, die vom französischen Regisseur Mathieu Bron über drei Jahre in ihrem Alltag begleitet wurden. Sie alle leben mit Behinderung in der Hauptstadt Maputo und gehören zu Candas’ Ensemble aus Tänzern und Tänzerinnen mit und ohne Behinderung.
Im Hintergrund drohen die Kühlerhauben
Victoria hat den linken Arm und die linke Schulter verloren. Insbesondere während ihrer Schwangerschaft merkte sie, dass sie zuerst als behinderter Mensch und erst dann als Frau wahrgenommen wird. “Ich sehe den Leuten an, dass sie denken: ‚Wer hatte den Mut, sie zu schwängern?’“ Die meisten können sich nicht vorstellen, dass es einen Mann gibt, der sie liebt. Sie können sich nicht vorstellen, dass sie eine Beziehung führt und Sex hat.
Wenn Vasco das Haus verlässt, zieht er Knieschützer an und geht auf Händen und Knien zur Arbeit. Seine Füße können den gelernten Schuster nicht tragen. Wegen des tiefen Sands nützt ihm sein Rollstuhl auf dem Weg in die Stadt nichts. Außerdem sagt er: “Dann kann ich ohne Hilfe in jeden Bus steigen. Ohne Rollstuhl bin ich flexibler.” Es ist ein beeindruckendes Bild, wie er auf allen Vieren über die Straße geht – im Hintergrund drohen die Kühlerhauben der auf Grün wartenden Autos.
Oft verstecken Familien ihre behinderten Kinder
Im Gegensatz zu Vasco hat Mariana, die in “Borderlines” mittanzt und am Sonntag bei der Fachtagung „Theaterarbeit: All Inclusive II“ mit Panaibra Canda einen Workshop leiten wird, keine Beine. Ohne Rollstuhl kann sie sich ein Leben nicht vorstellen, auch wenn sie in der Schule von zwei Kommilitonen die Stufen hinaufgehievt werden muss und die öffentlichen Toiletten meist zu schmale Türrahmen haben. Wenn sie auf den Markt geht, muss sie hoffen, dass sie zufällig einen Bekannten trifft, der sie auf dem Rückweg im Auto mitnimmt. Oder auf einen netten Busfahrer, doch die meisten ignorieren sie. Der Rollstuhl nimmt zu viel Platz weg. Ob sie dafür bezahle, fragen die meisten. Immerhin würde ansonsten ein weiterer zahlender Fahrgast in den Kleinbus passen. Eine Verkäuferin scheucht sie aus ihrem Laden. “Vielleicht denken sie, die Behinderung ist ansteckend”, erzählt Mariana lachend.
Für Victoria, Vasco und Mariana setzt sich die Associação dos Deficientes Moçambicanos ein, kurz ADEMO (Vereinigung der Menschen mit Behinderung Mosambik). 1989 gegründet, versucht der Verein auf die Situation der geschätzten 2,6 Millionen Menschen mit Behinderung in Mosambik aufmerksam zu machen. Leicht ist das nicht. Die Arbeit beginnt in den Familien, die oftmals ihre behinderten Kinder verstecken, wie Marianas Vater erzählt, der da ganz anderer Meinung ist: “Wir müssen doch unsere Kinder zur Schule schicken, denn morgen werden sie uns helfen.” Er sieht seine Tochter wie eine Pflanze, die gegossen werden muss, damit sie aufblüht: “Wir sind ihr Wasser.”
Zur Autonomie gezwungen
Nach der (Un-)Abhängigkeit, die Candas’s Arbeit so zentral umkreist, stellt sich unweigerlich die Frage, wo diese für Mariana, Vasco und Victoria einsetzt. Während hierzulande Menschen mit Behinderung meist für mehr Unabhängigkeit, für weniger Angewiesen-Sein auf ihre Mitmenschen kämpfen, nimmt keiner der dreien das Wort Unabhängigkeit in den Mund – in ihrem Alltag werden sie unweigerlich zu Unabhängigkeit und Autonomie gezwungen. Sie wären gerne abhängiger von ihren Mitmenschen. Sie würden gerne mehr gesehen, vom Nobody zum Body werden, die Gesellschaft beschäftigen. Und einen Alltag erleben, in dem ein Rollstuhl mehr Flexibilität bedeutet.