Nichts liegt auf der Hand

Maria-Christina Hallwachs spielt im Rollstuhl Fußball
“Qualitätskontrolle” © Cecilia Glaesker

 Zum Auftakt des 17. Grenzenlos Kultur Theaterfestivals zeigt Rimini Protokoll im Staatstheater Mainz „Qualitätskontrolle“

Gegen Ende dieses Abends, als ein übergroßer, aufgeblasener Ballon fast die komplette Bühne einnimmt, meint man eigentlich schon viel dazugelernt zu haben. Maria-Cristina Hallwachs und Timea Mihályi befinden sich in dieser Plastikblase, dem Publikum zugewandt.

Letztere streckt ihren linken Arm aus, mit der Handfläche nach oben. “Nichts liegt auf der Hand”, sagt Maria nüchtern und das Licht erlischt – eine einfache und doch treffende Feststellung, welche an diesem Abend an neuer Bedeutung gewinnt.

Als sie vor über 20 Jahren kopfüber in ein knapp 50 Zentimeter tiefes Nichtschwimmerbecken springt, bricht sich Maria-Cristina Hallwachs das Genick. Seitdem kann sie sich vom Kopf abwärts nicht mehr bewegen. Heute ist sie 41 Jahre alt, ein “Kopfmensch” sagt sie, auf die Hilfe anderer angewiesen. Den Unfall nennt sie den Beginn ihres neuen Lebens. Um dieses geht es an diesem Abend: “Qualitätskontrolle” heißt das Stück des Theaterkollektivs Rimini Protokoll, das im Juni 2013 in Stuttgart Premiere feierte. Am Mainzer Staatstheater markiert es den gelungenen Einstieg in das zehntägige Theaterfestival Grenzenlos Kultur. Denn es geht weit über einen einfachen Theaterrahmen hinaus: Dieser Abend klärt auf. Über das Leben Maria-Christina Hallwachs, über den Alltag eines körperlich behinderten Menschen, über die Existenzberechtigung menschlichen Lebens. Und vor allem über die Bedeutung von Lebensfreude.

Am Unfallort

Was ist ein Leben wert? Und woran wird dieser Wert gemessen? Als Maria damals in der Klinik gefragt wird, ob sie überhaupt weiterleben will, müssen die Ärzte ihr eine Beruhigungsspritze verabreichen – so sicher ist sie sich ihres Lebens und so groß die Angst, es zu verlieren. An diesem Abend auf der Bühne gewährt sie dem Publikum tiefe Einblicke in ihre Lebensgeschichte. Es ist ein sehr persönlicher Abend. So stellt sich auch die Frage: Wo hört das Private auf und wo fängt Theater an?

Es ist alles da: Der Querschnitt eines Schwimmbeckens erinnert an den Unfallort und bildet die sonst spärliche Bühne, die mal als Fußballfeld, mal als Memory-Spiel oder Fläche für Schiffe-Versenken dient. Dort erzählt Maria multimedial Geschichten ihrer Vergangenheit, mit Bildern aus Jugendtagen, die über eine Leinwand ziehen und Toneinspielungen, auf denen Schreie und Laute ihrer geistig behinderten Schwester zu hören sind. Sie spricht über das kontroverse Thema Pränataldiagnostik und klärt über die behindertenfeindliche Propaganda der NS-Zeit auf.

Kein Argument

Was sie erzählt, berührt, erschüttert und belehrt. Eine Mischung, die in der Botschaft gipfelt: Jedes Leben ist wertvoll und nicht nur die Würde unantastbar. Ein Wohlfühlabend? Nicht nur: Rimini Protokoll haben auch Fallen aufgestellt. Etwa, als Maria erfolgreich in 45 Sekunden einen Rollstuhl-Parcours absolviert – wofür genau applaudiert da das Publikum? Für die Geschwindigkeit? Die Lebensleistung?

Oder in dem Moment, wo es im Zuschauerraum spürbar unruhig wird, als Marias Pflegerin Timi ihr auf der Bühne den Lungenschleim absaugt, wobei Maria mit dem Rücken zum Publikum steht: Hier zeigt das Theater, dass es eben manchmal doch noch schwer fällt, sich gegenüber Menschen mit körperlicher Behinderung richtig zu verhalten – und “Qualitätskontrolle” ist ein Beweis dafür, dass man nicht davor zurückschrecken soll.

Und auch, wenn eine seltsame Erleichterung zu spüren ist, als das Publikum sich beim Schlussapplaus zu stehenden Ovationen erhebt, liegt am Ende dieses Abends doch etwas auf der Hand: “Dass man sich etwas vorstellen kann oder nicht, ist kein Argument etwas nicht zu tun.” Eine Botschaft, mit der man bereichert in die kommenden Tage des Festival geht.