Variations Antigone der Compagnie Création Ephémère
Ob die französische Compagnie Création Ephémère dem deutschen Bildungssystem mißtraut? Der Zuschauerraum ist noch hell erleuchtet, am linken Bühnenrand werden die Darsteller gerade weiß geschminkt, als in der Bühnenmitte die Geschichte von Ödipus verlesen wird. Schnell wird klar: Der Blick auf das große Ganze hat hier Prinzip. „Antigone-Variationen“ nach dem Text von Eugène Duriff stellt die Frage nach der Unabwendbarkeit eines grausamen Familienschicksals. Der antike Stoff wird zur Grundlage eines düsteren Sippenporträts, das der Regisseur Philippe Flahat als unheimlichen Reigen schwarz-roter Bilder und dunkler Klänge entwirft.
In einem hölzernen Zeugenstand steht an der Bühnenrampe der Erzähler. Immer wieder wird er von hier an das Ende der Kämpfe und den Freudentaumel in der Stadt Theben erinnern, während durch eine durchsichtige Gaze von ihm und den Zuschauern getrennt der Kampf zwischen Antigones Brüdern noch gar nicht begonnen hat. Zwischen zwei Grabsteinen, die das Ende bereits vorausnehmen, setzt mit einer fast zärtlichen Umarmung von Polyneikes und Eteokles die Handlung ein. Aus ihrer scheinbar innigen Nähe lösen sich die Brüder langsam und steigern mit wachsender Intensität ihr tödliches Ringen. Die Klaviermusik von Jean Raymond Gélis, die die Inszenierung durchgängig untermalt, wächst zu monumentalen Klangsphären an; Schlagwerk steigert den Rhythmus bis zum gegenseitigen finalen Todesstoß. Während Eteokles von seinem Onkel Kreon bestattet wird und ein schwankendes Zombie-Heer ihn in einen roten Königsumhang kleidet und ins Jenseits geleitet, bleibt diese letzte Ehre seinem Bruder verwehrt.
Ein Unrecht, das Antigone nicht hinnehmen kann. Im flackernden Schein der Kerzen sitzt sie auf überdimensionierten Stühlen am Essenstisch und ignoriert die Warnungen ihrer Schwester Ismene. Diese Antigone, gespielt von Florence Hugots und wie alle anderen in Kostüme mit starken Gothic-Anleihen gekleidet, wirkt dem Tode näher denn dem Leben. Hugots eigentümliche Sprachbetonung lenkt die Aufmerksamkeit weg von der Wortbedeutung und hin zum Wortklang. Mechanisch scheinen ihre Sätze die Luft zu zerschneiden und bilden mit den Weisen einer Sängerin den akustischen Klangteppich aus Schmerz- und Klagegesängen. Mit steifen Bewegungen und stoischer Unaufhaltsamkeit folgt sie ihrem Weg, widersetzt sich dem Onkel und wickelt den toten Polyneikes für seine letzte Reise in weiße Leinenbinden. Mit der verbotenen Bestattung des geliebten Bruders endet die Nacherzählung der antiken Vorlage.
Nun beginnt eine Reise in die Kindheit: „Comme enfant on joue à mourir“ – als Kind spielt man sterben, so heißt es im Untertitel und im Text. Wie ein Gruß der Vergangenheit flimmern über die hintere Bühnenwand Filmaufnahmen spielender Kinder. Eine knabenhafte Stimme erklingt vom Band und berichtet vom kindlichen Ringen und Raufen unter Brüdern. Immer tiefer wird der Klang der Stimme und nähert sich rasant dem wachsenden Ernst eines Spiels, das im Tod enden wird. Als Zeugen der Kindheit treten auch Iokaste, Ödipus und der Seher Theresias vor das Publikum, doch steht es nicht in ihrer Macht, das Geschehen zu erklären, das Schicksal zu wenden.
Keineswegs schicksalsergeben hingegen wirkt die Horde Vermummter, die die finale Szene stürmt – man fühlt sich an die Londoner Aufstände Anfang August erinnert. Auch hier wird geplündert und so ganz konkret eine Übernahme des Sophoklesschen Werkes vollzogen, eine Aneignung weitergeführt, wie sie die Inszenierung begonnen hat. Immer wieder und wieder, so der Erzähler, durchlebt das Ensemble Antigones Geschichte und macht sie so zu seiner eigenen. Und wie Kinder in ihrem Spiel dem Tod den Schrecken nehmen, indem sie ihn durchleben, so soll auch diese Antigone-Variation – voller Tod und Trauer, voller Schmerz und Blut – der Katharsis der Zuschauer in aristotelischer Tradition dienen.
Was am Ende bleibt? Dem Diener, der vor den Vorhang tritt, will ein Lied über die Lippen. Doch dann besinnt er sich. Der Rest ist Schweigen.