Volker Gerling zeigt mit seinen Daumenkinos poetisch das Ewige im Vergänglichen
Das Fotoporträt eines älteren Mannes. Ernst schaut er in die Kamera, nachdenklich. Dann dreht er den Kopf, die Blickrichtung driftet zur Seite. Der Kopf dreht wieder zurück. Der Mund formt ein kleines Lächeln. Der Blick versöhnlich. Das alles zeigt ein Daumenkino: Zwölf Sekunden lang wurde der Auslöser gedrückt. Drei Bilder pro Sekunde, insgesamt 36 Fotos. Die Geschichte dazu erzählt der Fotograf, nachdem er die kurze Szene drei Mal gezeigt hat: Der Mann, der zwei Nahtoderfahrungen in seinem Leben als berückend schön empfand, sah beim Blick aus dem Fenster einen Felsen, der noch da sein wird, wenn er selbst nicht mehr ist. Daher das Lächeln.

Im Bühnenprogramm, das Volker Gerling – Daumenkinograf – im Rahmen von Grenzenlos Kultur performt, porträtiert Menschen, die Gerling auf seinen Wanderschaften trifft. Er war bereits 5500 Kilometer unterwegs, durch Deutschland, Österreich und die Schweiz. Zu Fuß begegnet er ihnen und kommt ins Gespräch. Immer dabei ist der hölzerne Bauchladen, bestückt mit Daumenkinos. Überwiegend Porträts, überwiegend entstanden aus seinen spontanen Begegnungen. Sie zeigen Menschen für zwölf Sekunden in ihrem Leben: eine junge Frau, die ihre langen Haare abschneidet und ihre Frisur zum ersten Mal im Spiegel anschaut. Einen Tischlergesellen auf der Walz, der lächelnd an einer Zigarette zieht. Drei Jahre und einen Tag muss er unterwegs sein. Das erste Jahr, um sich an das Wanderleben zu gewöhnen, das zweite, um es zu genießen und das dritte, um sich davon zu verabschieden. Volker Gerling zeigt an diesem Abend jedes seiner Daumenkinos drei Mal. Auf der Bühne projiziert er sie per Livekamera auf die Leinwand.
Die Bühne ist karg ausgestattet: zwei Tische, eine fest installierte Videokamera, ein Mikrofon, die Daumenkinos, gedimmtes Licht, im Fokus der Künstler und die große Leinwand. Vor der Videokamera blättert er ein Daumenkino nach dem anderen durch. Zu hören ist das Knattern der Kartonseiten, ein Mikrofon verstärkt das schnappende Geräusch. Zu sehen sind kleinste Bewegungen in der Mimik und Gestik der Menschen. Zwölf Sekunden werden zum zeitlosen Beweis, festgehalten für die Ewigkeit. Die Daumenkinos zerlegen einen kurzen Zeitraum in Momentaufnahmen, setzen sie dann wieder zu einem bewegten Film zusammen. Nur nicht nahtlos, sondern Stück für Stück.
Ein Foto von Gerling zeigt ein Schild mit der Aufschrift „Eile tötet“. Und das ist der Punkt. Der Daumenkinograf lädt dazu ein, in Ruhe genau hinzuschauen und wahrzunehmen. Während die Daumenkinos vorgeführt werden, ist nur das Ploppen der kartonierten Seiten zu vernehmen. Die Konzentration richtet sich unweigerlich auf die Fotostrecke. Begleitend erzählt Gerling vor und nach dem Zeigen seiner Daumenkinos von den abgebildeten Menschen. Wer sie sind, wie sie leben und was sie sagen. Die Menschen bekommen so Kontur, es bildet sich eine Vorstellung, die Nähe erzeugt.
Volker Gerling steht auf der Bühne, allein und doch in Gesellschaft der Menschen, die er abgelichtet hat, und ihren Geschichten. Mit Offenheit und einer Prise Witz und viel Gefühl schildert er, gibt weiter, was die Menschen ihm anvertrauen. Er tut dies wertfrei, lässt Raum für eigene Gedanken und Gefühle.
Auf einem Festival trifft er Ariane. Sie ist 13 Jahre alt, als er sie porträtiert. Er tut dies im Abstand von sechs Jahren drei weitere Male. Gerling gibt jedem Daumenkino einen Titel. Im Fall von Ariane: „Mädchen mit Sommersprossen“, „Junge Frau mit Sommersprossen“, „Junge Mutter mit Sommersprossen“, „Frau mit Sommersprossen“. Ariane hat viele Sommersprossen, die sie beim ersten Fotografieren nicht mag, weil sie wie Pickel aussehen. Beim zweiten Aufeinandertreffen ist sie dankbar für die Sommersprossen, weil sie ihre Pickel überdecken. In der dritten Begegnung gesteht Ariane, sie liebe ihre Sommersprossen, sie gehören zu ihr. „Ich werde zur Person, die ich bin“, sagt sie beim letzten Wiedersehen. Die vier Daumenkinos ähneln sich. Sie porträtieren Ariane alle erst ernst schauend, dann lächelnd und Nase kräuselnd, am Ende neutral frontal in die Kamera schauend. Vier mal zwölf Sekunden aus Arianes Leben, verbunden mit einem Gespräch, führen Vergänglichkeit und Wandel vor Augen und halten gleichzeitig Teile des Lebens unveränderbar fest.

„Forever Young“ lautet das Thema der diesjährigen Festivalausgabe. Volker Gerlings Lecture Performance konturiert das Gegenteil: Niemand bleibt ewig jung, nichts überdauert die Ewigkeit. Momente ziehen dahin. Menschen sind vergänglich. Umstände ändern sich. Die Welt wandelt sich. Dennoch sind seine Arbeiten Ausdruck des Bleibenden. Ein Daumenkino zeigt einen Mann, der genau weiß, er will 91 Jahre alt werden. Als er mit 94 stirbt, legt seine Familie sein Daumenkino auf seinen Gedenktisch. Seine Geschichten bleiben, die Fotos halten den Menschen in der Gegenwart.
„Die Welt besteht nicht aus Atomen, sondern aus der Aneinanderreihung von Geschichten.“ Mit diesem Satz schließt Volker Gerling seine Performance ab. Eine Einladung, die Welt durch seine Brille zu betrachten.