„VERWALTUNG / SCHREDDERN!“, ruft das Publikum wiederholt in Richtung Bühne, angeheitzt von Rebecca Ruthless. Der Raum wird dunkler, die Musik düsterer. Als dann Friedrich Merz und Christian Lindner mit einem Kescher sowie einem Schutzschild bewaffnet auf die Bühne treten, verstummen die Rufe. Die Politiker (zwei Schauspielerinnen mit übergroßen Pappköpfen) kommen, um die Verwaltung zu zerstören, das ist klar.

Ein Musical über den deutschen Bürokratieapparat voller Ohrwürmer, Glitzer, überdimensionaler Büroutensilien und Humor – das ist „Die Tüten aus der Verwaltung“. Unter der Regie von Marielle Sterra kooperiert das Theater Thikwa mit glanz&krawall sowie der Musical-Komponistin Sarah Taylor Ellis und präsentiert im Rahmen des 27. Grenzenlos Kultur-Festival eine Parodie auf unsere Behörden. Ganz nach dem Motto „Eine für alle und alle ins Büro“ hangeln sich die fünf Beamtinnen – Jutta Heinzelmann (Chrissi Hilkens), Sabine Drängler (Jasmin Lutze), Clara Fall (Yasmina Hempel), Lucie Nagel (Rudina Bejtuli), Rebecca Ruthless (Lola Fuchs) – und ihr Chef „Der Boss“ (Christian Wollert) von Kaffeepause zu Kaffeepause. Dabei werden sie von einer Liveband begleitet.
Auf einer riesigen Tastatur, in die drei Trampoline eingelassen sind, lehnen die Kolleginnen Anträge ab und üben das Aufsagen der Wartenummern. Dafür springen sie auf den Buchstaben hin und her. Kollegial wird die Arbeit aufgeteilt, sodass sich niemand zu sehr anstrengen muss – „aber Drei-Tage-Woche ist zu krass“. Sechs Bürostühle stehen zwischen dieser erhöhten Tastatur und einem silbernen Glitzervorhang an der Bühnenrückwand. An ihm ist zentral eine Uhr befestigt, die um kurz vor zwölf stehengeblieben ist. Rechts daneben befindet sich die Band, welche ebenfalls in der Verwaltung arbeitet, beziehungsweise Pausen macht.
Während für Sabine und Jutta ihre Auftritte als Schlagerduo von großer Bedeutung sind, hat Lucie den Geist der bei der Arbeit verstorbenen Kollegin Brigitte Blumquist als Vorbild. Die Figuren sind nicht nur voller Klischees, sondern weisen auch jede Menge ausgefallener Eigenheiten auf. Trotzdem oder gerade deshalb ist jede einzelne Tüte sympathisch und liebenswert, selbst die sich als neoliberale Spionin entpuppende Rebecca. Dazu tragen auch die Kostüme bei (Raissa Kankelfitz). Sie bestehen aus bunten Hosenanzügen und Hemden, abgerundet werden sie allerdings von glitzernden, viereckigen Helmen auf den Köpfen der Darstellenden. Die Kostüme vereinen Bühne mit Büro, frische Unterhaltung mit eingestaubten Systemen.
Apropos eingestaubtes System: Das letzte Faxgerät kommt auch noch zu Wort. Ein durch LED-Streifen beleuchteter Karton mit Fax-Display, den sich Yasmina Hempel (gerade noch als Clara Fall auf der Bühne) überstülpt. Die ebenfalls beleuchtete Sonnenbrille rundet den Look ab. Unterhalb des Kartons hängen Kabel heraus. Mit dem Leitspruch „Fax the system!“ macht es auf lang bekannte Missstände aufmerksam und erzählt nebenher noch die kritische Grundstruktur der Verwaltung. Eine kurze Fantasie eines Bandmitglieds (Ismael Arslantürk) zeigt, wie die geforderte Effizienz beispielsweise im Arbeitsamt aussehen kann: Sie suchen einen Job? Ein schneller Blick in den imaginären Computer, ein kurzer Anruf und schon gibt es eine arbeitslose Person weniger.

Ob sprechender, überdimensionierter Tacker, Kuli, Stempel und Notizblock oder kollektives Emailschreiben mit musikalischer Begleitung, die Ämter des Landes werden nicht bloß auf den Arm genommen, denn der Abend hat auch eine ernste Seite. Er zeigt, was den Tüten (und uns) durch den Bürokratieabbau droht: Arbeitslosigkeit, unpersönliche Computerstimmen am Telefon und deprimierte Gesichter. Die Kritik an der Bürokratie aber zeigt sich ambivalent. Denn während Merz und Lindner vor allem Bürokratieabbau fordern, um wirtschaftliche Gewinne zu maximieren und ihre Privilegien zu zementieren, zeigt die Kritik an der Verwaltung auch den die Würde bedrohenden Umgang mit Menschen mit Beeinträchtigungen, die der Macht und Willkür der Ämter ausgeliefert sind.
Insgesamt stellt „Die Tüten aus der Verwaltung“ eine humorvolle Kritik des Beamtentums mit einer bedrohlichen Wendung und einem utopischen Schluss dar. Hinter dem Ämterwahnsinn von Drei-Tage-Woche, Pause und Urlaub stehen Menschen mit eigenen Träumen und Ängsten, die für das Funktionieren eines Landes wichtiger sind, als einem bewusst ist. Show und gesellschaftspolitischer Diskurs, Spaß und Ernsthaftigkeit – diese Aspekte gehen hier Hand in Hand. So bleiben nach dem Abend Ohrwürmer sowie der Wunsch nach mehr Menschlichkeit und weniger Hürden in der deutschen Bürokratielandschaft.
