„Wir waren Blumen an Orten, wo wir nicht gepflanzt wurden.“

Mainz, 14.10.2024. Kaltes blaues Licht, ein weiß ausgekleideter Boden auf der U17 Bühne des Mainzer Staatstheaters. Die Videoprojektion eines auf mich zu bewegenden Universums, eine übergroße dreidimensionale Drahtmaske in der Mitte des Bühnenraums, aufgehängt an weißen Seilen, rechts und links straff gespannt und am Boden verankert, durchkreuzen scharf das Bühnenbild. Aus dem Off metallische Klänge, der Geruch der Plastikfolie des Bodens tritt stechend hervor, es entsteht der Eindruck eines Raumes inmitten eines Science-Fiction Films.

Es ist das Bühnenbild von „Aurora Negra“. So auch der Titel der Inszenierung und Name des portugiesischen Kollektivs von Cleo Diára, Isabél Zuaa und Nádia Yracema. Sie gründeten es 2020, um ihren Geschichten eigene Stimmen und eine eigene künstlerische Ausdrucksmöglichkeit zu geben. Über vierzig Mal haben Sie ihre erste Arbeit „Aurora Negra“ bisher aufgeführt, davon dreimal in Deutschland – Düsseldorf, Heidelberg und nun in Mainz. Übersetzt bedeutet der Name Schwarze Morgenröte und entstand aus dem Grundgedanken etwas Revolutionäres in Gang zu setzen. Eine Idee zum Beispiel, welche wie die Morgenröte langsam anfängt und zu etwas Größerem wächst. Darunter fällt für das Kollektiv das unsichtbare Leben von Schwarzen Frauen, welches sie mit diesem Namen ehren wollen.

 Die drei Performerinnen stehen in blauem Licht und richten ihr Gesicht gen Himmel, die Arme nach vorne ausgestreckt.
Anrufung der Ahnen: (v.l.n.r.) Isabél Zuua, Nádia Yracema, Cleo Diára; Foto: Holger Rudolph

„Eine Frau wie wir, wie ich“

Im Ohr summt noch das Echo von metallisch scheppernden Glocken, als die drei Frauen in rot-weißen Gewändern auftreten. Zwei halten rauchende Räucherstäbchen in den Händen, eine verstreut in regelmäßigen Abständen eine Art körnigen Staub entlang des Bühnenrandes. Es scheint sich ein Ritual auf der Bühne zu entfalten, in dessen Regeln ich nicht eingeweiht bin. Aber trotzdem nehme ich teil, weil ich es durch meine Anwesenheit bezeuge. Aus dem Off singt eine Frau in einer mir fremden Sprache, die Übertitel weisen aus, dass es sich um kapverdisches Kreol handelt und dass es um folgende Anrufung geht: „Mutter, richte meinen Körper auf / Mutter, entfalte auch meinen Geist“.

Aus dem räumlichen Ritual wird ein körperlicher Vollzug. Eine Frau umfasst das Kinn der anderen, richtet ihren Kopf auf, die Aufgerichtete lächelt. Ein gemeinsamer Tanz entsteht, lachende Gesichter, gesungene Phrasen vom Band, die drei Darstellerinnen singen mit. Eine kraftvolle Atmosphäre, spürbar im eigenen Körper. Gänsehaut. Die Tonstärke verdichtet sich, mündet in lautes Rufen, löst sich auf im Beschwören der Vorfahren. Die drei Frauen stellen sich dem Publikum entgegen und rufen Dona Maria an, die Prinzessin von Brasilien.

Die Performerinnen Nádia Yracema und Isabél Zuua liegen entspannt am Boden, Isabél frisiert Nádia die Haare, während die dritte Performerin Cleo Diára bei ihnen steht und gestikulierend erzählt..
Kindheitserzählungen (v.l.n.r.) Nádia Yracema, Isabél Zuua, Cleo Diára; Foto: Holger Rudolph

Auch bekannt unter dem Namen Maria II. da Glória ist sie als Frau mit Migrationshintergrund (in Brasilien geboren, später nach Portugal ausgewandert) personaler Ausgangspunkt für die Performance der drei Frauen. Im Anschluss der Aufführung berichten Cleo Diára, Isabél Zuaa und Nádia Yracema im Nachgespräch in der Kakadu Bar, dass Dona Maria für sie besonders zugänglich war, da auch sie unter dem Patriachat gelitten und eine Migrationsgeschichte habe. Allerdings habe sie auf der anderen Seite der Medaille von Kolonialisierung und Herrschaft gestanden. Deswegen wird sie in der Aufführung lediglich als Angesprochene situiert, damit die drei Performerinnen ihre Geschichte erzählen können, die sonst ungehört bleibt.

„Eine glückliche Schwarze Frau ist ein revolutionärer Akt“ – „Also bin ich die Revolution.“

Es gibt viel zu sehen, zu spüren, zu begreifen. Und immer wieder ist Humor darin ein verbindendes Element. Er ist für die Performerinnen ein guter Umgang mit schweren Situationen und gleichzeitig dient er dem Publikum als Zugangsstrategie. Mit dem Humor ist nicht zuletzt die Möglichkeit verbunden, als Zuschauerin auch den Schmerz unter dem Lachen zu erkennen und sich für kritische Selbstreflexion zu öffnen. Die Aufführung ist wie ein Durchschreiten der Zeit, dabei wird der Vergangenheit in jedem Augenblick eine fundamentale Bedeutung zugesprochen. So bleiben die Ahnen allzeit gegenwärtig ruhend im Hintergrund, symbolisch verankert in der übergroßen Maske aus Draht, die je nach Beleuchtung auch die Handlungen rechts und links zu beobachten scheint. Wurde ich zu Beginn in eine unbekannte Zukunft gesetzt, in den Vollzug eines uralten Rituals, dessen Entstehen niemand miterlebt hat, weicht diese mythische Vergangenheit den Erzählungen der Schwarzen Mütter und Tanten, holt Erlebtes in eine greifbarere Zeit. Es folgen Kindheitserinnerungen der Performerinnen, der Töchter, und ein Aufführungsmoment, in dem die drei Frauen von einer Off-Stimme in einer Casting-Situation respektlos und entwürdigend herabgesetzt werden. Er reißt mich aus meiner zurückgelehnten Zuschauerhaltung heraus und lässt mich – mir einmal mehr über meine Privilegien als weiße Frau bewusst werdend – mitfühlend und fassungslos zurück.

Die Performerin Nádia Yracema steht dem Betrachtenden seitlich zugewandt, der Blick geht über die Schulter nach oben, sie trägt einen rot-weiß gestreiften ausladenden Rock und eine große Anzahl an bunten Stoffketten über dem Oberkörper.
Die Performerin Nádia Yracema; Foto: Holger Rudolph

Am Ende des Abends, aber keineswegs der erschaffenen Fiktion, die das Kollektiv dem Afrofuturismus zuordnet (der Afrofuturismus imaginiert eine Gesellschaft, in der Schwarze Menschen gleichberechtigt leben können und ist als Widerstandsbewegung zu verstehen, die gänzlich neue Science-Fiction-Welten erfindet), erscheint auch die nächste Generation: die Töchter der Töchter als Stimme aus dem Off. Sie erzählen von Berufs- und Zukunftswünschen, bauen auf den vorangegangenen Müttern auf, die heimlich lernen mussten, die ihrer Kinder entrissen wurden und den Schwarzen Frauen, die auch heutzutage für sie weiterkämpfen.